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Die Kunst des guten Beendens

Titel: Die Kunst des guten Beendens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Ley
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würden. Manchmal ist mir seit ihrem Tod in einem müden und traurigen Moment der Gedanke gekommen, dass sie, die Verstorbenen, es nun hinter sich haben, dieses wunderbare und grässliche Leben.
    Katie schreibt: »Einmal entnahm mir ein Arzt eine Blutprobe und kam mit einem langen Gesicht zurück. Er sagte, er hätte eine schlechte Nachricht, es täte ihm leid, aber ich hätte Krebs. Eine schlechte Nachricht? Ich musste lachen. Als ich ihn ansah, merkte ich, dass er ziemlich bestürzt war. Nicht jeder versteht diese Art von Fröhlichkeit. Später stellte sich heraus, dass ich keinen Krebs hatte, und auch das war eine gute Nachricht.
    Die Wahrheit ist, wir können Gott – oder die Wirklichkeit, die Vollkommenheit, das Leben – erst lieben, wenn wir den Krebs lieben. Es spielt keine Rolle, für welches Symbol wir uns entscheiden – Armut, Einsamkeit, Verlust. Wir leiden unter den Vorstellungen von Gut und Böse, die wir daran festmachen. Einmal saß ich am Bett einer Freundin, die einen riesigen bösartigen Tumor hatte. Die Ärzte hatten ihr nur noch ein paar Wochen gegeben. Als ich aufstand, sagte sie: ›Ich liebe dich‹, worauf ich erwiderte: ›Nein, das tust du nicht. Du kannst mich erst lieben, wenn du deinen Tumor liebst. Alles, was du über den Tumordenkst, wirst du irgendwann auch über mich denken. Sobald ich dir nicht gebe, was du willst, oder deine Überzeugungen infrage stelle, wirst du diese Vorstellungen auf mich übertragen.‹ Das klingt vielleicht hart, aber meine Freundin hatte mich gebeten, ihr stets die Wahrheit zu sagen. Die Tränen in ihren Augen, so sagte sie dann, waren Tränen der Dankbarkeit.« 43
    »Ich habe Krebs« ist ein überwältigender und ein existentiell äußerst herausfordernder Satz für den Menschen, der ihn ausspricht, und für den Menschen, der ihn hört. Ich habe Krebs – und die Phantasien machen sich selbständig. Es tauchen Bilder auf. Chemotherapie und Bestrahlungen, Müdigkeit und Übelkeit. Und danach das Kopftuch, um den kahlen Kopf zu schützen oder zu schmücken. Schmerzen über Schmerzen. Abgemagerte, geschwächte Körper. Und wieder Schmerzen und Schwäche. Leider ist es immer wieder so. Diese Realität stimmt. Wir alle fürchten uns davor. Ab und zu gibt es Hoffnungsschimmer. Ein Mann, der sehr lange gegen seinen Krebs gekämpft hat, kann ihn auf einmal annehmen und sagt unter Tränen, dass er noch nie so lebendig gewesen sei in seinem Leben wie jetzt, beim Sterben. Und eine Frau, die nicht sterben wollte an ihrem Krebs und sich benachteiligt fühlte vom Schicksal, sagte in ihren letzten Tagen, dass sie ganz glücklich sei über die unglückliche Zeit.
    Eine andere, ältere Frau, die auch nicht sterben wollte an ihrem Krebs, sagte einen Tag vor ihrem Tod, dass es ihr großes Ungemach bereite, sterben zu müssen. Es tut weh, Menschen zu begleiten, die keinen Sinn sehen im Verfall ihres Lebens. Unsere Zivilisation identifiziert sich stark mit dem intakten Äußeren und damit mit dem lebendigen, jungen und unversehrten Körper. Dann bereitet es Mühe, die alten, die kranken Menschen als Menschen zu achten und zu verehren, die durch ihr Leiden zu einer inneren Dimension des Bewusstseins vorstoßen können.
    Kann man einen Krebs akzeptieren? Und was bedeutet das? Was bedeutet es in einer Kultur, die uns immer wieder mit Untersuchungen beweisen will, dass wir die KrankheitKrebs durch gesunde Ernährung, gemäßigten Lebenswandel und ausreichend Bewegung vermeiden können? Die schlimme Diagnose »Krebs« kann nicht bedeuten, dass ein Mensch sich aufgibt. Er informiert sich und prüft die bestmöglichen Behandlungen. Und willigt nach reiflichem Abwägen ein in eine Behandlung – oder nicht. Der Krebs kann als Freund oder Feind wahrgenommen werden. Angst und Anspannung, Kampf gegen sich selbst und Hader beeinträchtigen einen möglichen Gesundungsprozess. Es beeindruckt mich immer zutiefst, wenn ein Mensch von »seinem Krebs« spricht, mit dem er im Gespräch ist, für den er tut, was er für gut hält, und der ihm eine neue seelische Lebensqualität ermöglicht.
    Krebs lehrt Demut und inneres Wachstum. Er verweist auf Kräfte im Körper, die größer und stärker sind als der menschliche Wunsch und Wille, gesund zu sein. Vielleicht öffnet gerade diese Erkenntnis das Tor zu einer größeren existentiellen Dimension. Es ist eine harte Prüfung. Danach hören wir, dass der Krebs »sie« besiegt oder »er« den Kampf gegen seinen Krebs verloren hat. Ein Mensch ist aus

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