Die Kunst des guten Beendens
abgrundtiefes Misstrauen, eine Angst vor Verletzungen, die ich meistere, indem ich den Verletzungen zuvorzukommen versuche.
Seitdem ich wieder in die Therapie gehe, bin ich nicht drogenfrei. Doch ich habe drogenfreie Phasen. Ich schreibe ohne Drogen. Ich fühle mich wieder lebendig. Auch jetzt, nach einer schlechten Phase, fühle ich mich nicht so im Loch wie vorher. Auch wenn ich Kokain nehme, so sehe ich vermehrt das Schale daran. Es ist noch nicht genug, doch es wird hoffentlich bald wirklich genug sein.«
Diese Frau ist vom Kokain losgekommen. Es gelang ihr, den Suchtkonsum zu beenden. Doch sie weiß, dass das Suchtpotential in ihr steckt und dass sie sich ein Leben lang damit beschäftigen muss.
Dem Ende des Lebens entgegen
Wer seine Sinne hat ins Innere gebracht, der hört, was man nicht redet, und der sieht in der Nacht.
Angelus Silesius
Wir Menschen wissen, dass wir sterben müssen. Unsere Lebenszeit wird durch den Tod begrenzt. Obwohl jeder Mensch das weiß, scheint er es nicht zu glauben. Woran würde man merken, dass ein Mensch an den Tod glaubt? Zu wissen, dass jeder Tag der letzte sein könnte, führt zu einem intensiven Leben. Zu fragen, ob man alles tut, was man tun sollte und möchte, und sich immer wieder zu vergewissern, dass man der Mensch ist, der man sein möchte, verankert im Hier und Jetzt. Das ist das, was wir haben: den aktuellen Moment.
Natürlich können wir nicht jeden Tag an das Sterben und den Tod denken. Natürlich können wir nicht jeden Tag unsere volle Lebenskraft leben. Dies gehört zu den Beschränkungen unserer Existenz. Es geht darum, zu akzeptieren, dass wir jederzeit sterben können. Dann fällt viel Unnützes, viel Leerlauf von uns ab. Jetzt ist Jetzt. Und jetzt leben wir.
Beenden-Können setzt menschliche Freiheit voraus und erschafft sie gleichzeitig. Das Herz sagt immer Ja zu Leben, Wachstum, Entwicklung. Doch Sterben und der Tod sind die letzte und höchste Entwicklungsstufe.
Älterwerden zwischen Torschlusspanik und Weisheit
Wenn man nicht gelebt hat, macht das Älterwerden Mühe. Wenn man etwas verpasst hat, fällt das Loslassen schwer. Doch wer gelebt hat, kann auch älter werden, kann loslassen, kann sagen: Es ist eines Tages genug. Ich habe erfüllt gelebt. Ich bin lebenssatt.
Das Sterben beginnt mit dem Älter- und Altwerden. Ganz sachte, vielleicht kaum merklich. Die körperlichen Kräftelassen nach. Der Körper beginnt an bestimmten Stellen – den Schwachstellen – zu schmerzen. Vorher hat es nie wehgetan. Der morgendliche Blick in den Spiegel verändert sich. Man muss sich ein paar Stunden gönnen, bis die Haut wieder straffer aussieht. Der Hals und die Hände verraten das Alter, selbst wenn frau und man im modischen jugendlichen Outfit als schlank und jung erscheinen – von hinten, von weitem. Aus der Nähe sieht es anders aus. Das ist oft irritierend. Es passt nicht mehr alles zusammen. Es gilt in dieser Zeit, neue Wege zu finden, die zu Glück und Weisheit anstiften.
Das Alter – der Herbst des Lebens. Der Frühling des Herbstes, der Sommer des Herbstes, der Herbst des Herbstes und schließlich der Winter des Herbstes: Es ist ein allmähliches Abschiednehmen von dem, was man einmal war. Das Leben ist Prozess, ist Veränderung, ist Vernetzung. Die körperliche, die geistige wie auch die emotionale und spirituelle Entwicklung verlaufen auch im Alter in einer gewissen Eigenständigkeit. Ich gehe von der Vorstellung aus, dass diese verschiedenen Entwicklungen sich nicht immer decken. Im Älterwerden ist es meistens die körperliche Entwicklung, die als Erste in der Tendenz abwärts führt. Ihr folgt mit den Jahren vielleicht – nicht unabdingbar – die geistige Entwicklung. Das Gedächtnis braucht Stützen. Dabei kann die geistige Schaffenskraft durchaus erhalten bleiben. Im emotionalen und spirituellen Bereich vermag sich ein Mensch bis zu seiner Todesstunde zu entwickeln. Der unterschiedliche Verlauf der körperlichen, geistigen, emotionalen und spirituellen Entwicklung und die Schaffung ihrer Einheit, dies alles vermag eine tiefe, umfassende Sicht auf die neue Wirklichkeit des Älterwerdens und auf die Einzigartigkeit jedes Menschen zu geben. Solange ich atmen kann, bin ich vernetzt. Solange ich fühlen kann, bin ich lebendig.
Irene erzählt: »Ich wurde ein Leben lang jünger eingeschätzt, als ich wirklich war. Das habe ich über viele Jahre, ja Jahrzehnte ausgekostet. Und dann merkte ich, dass ich in vielen Kreisen, in denen ich mich
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