Die Kunst des guten Beendens
Selbstbestrafung. Er wisse nicht, wie lange er das noch aushalte.
Im weiteren Verlauf der Gespräche erzählt Erwin mit großer Scham, dass es sich bei diesen homosexuellen Begegnungen um Vater-Sohn-Spiele handelt. Erwin kann beide Rollen besetzen, doch er zieht die Rolle des Sohnes vor. Er fühlt, dass er in diesen Begegnungen den nie gekannten Vater beschwören, hervorrufen und erleben will.
Erwin lebt verschiedene Leben. Er ist der liebende Ehemann, der anerkannte Kollege im Betrieb und der homosexuell Getriebene, der heimlich andere Männer konsumiert und unter seinen impulsiven und zwanghaften Durchbrüchen leidet und sich dafür bestraft. Das Bild seiner selbst ist brüchig und negativ. Erwin ist nervös und unruhig. In vielen Jahren der Therapie lernt er, sich selbst zu beruhigen und langsam ein besseres Bild seiner Person und seines Körpers aufzubauen. Es gibt immer wieder schmerzhafte, masochistische Rückfälle, die ihn in eine große Verzweiflung stürzen. Er nimmt mehr und mehr Abschied vom Gefühl, um seinen unbekannten, leiblichen Vater betrogen worden zu sein. Er liebt seinen Stiefvater von Herzen und trauert intensiv um ihn, als er stirbt. Dann macht er sich auf die Suche nach seinem leiblichen Vater. Das Zwanghafte und Getriebene der sexuellen Begegnungen mit unbekannten Männern nimmt langsam ab. Erwin fühlt sich weniger ausgeliefert und ohnmächtig. Er lernt, mehr und mehr mit seinen destruktiven Impulsen einen Umgang zu finden.
Süchte erkennt man anhand ihrer sich endlos wiederholenden Handlungen und den damit verbundenen Scham- und Schuldgefühlen. Beim Einnehmen bzw. Konsumieren wird das Suchtmittel zur »guten Mutter« oder zum »guten Vater«, den ein Mensch nie gehabt und schmerzlich vermisst hat. Im Konsum werden Aggressionen gebunden und es wird eine Nähe erlebt, die auf andere Art nicht erreicht werden kann. Doch Süchte sind Fallen: Bei Erwin wird der »gute Vater« in der sexuellen Begegnung zu einer bösen, verfolgendenInstanz. Das mündet in Selbstbestrafung und in das nicht einlösbare Versprechen, das Böse nie mehr zu tun. Die Not ist evident und groß. Sie besteht darin, dass der leidende Mensch andere Menschen unbedingt braucht, um Teile seines Innenlebens, die er nicht akzeptieren kann, bei ihnen zu deponieren. Beispielsweise eben die Erfahrung, den leiblichen Vater nicht zu kennen. Erst wenn darüber getrauert werden kann, können im besten Fall die selbstdestruktiven Tendenzen und das abgrundtiefe Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, überwunden werden. Das Beenden einer Sucht gleicht der Quadratur eines Kreises. Das Problem der Suchtverlagerung liegt meistens gefährlich nahe.
Ein weiteres Beispiel: Petra, Mitte dreißig, sucht mit einer schweren, seit vielen Jahren andauernden Depression und diversen psychosomatischen Beschwerden eine Therapie auf. Sie war in ihrem Leben schon mehrfach in Therapien. Sie sucht nach eigenen Worten immer neue Therapeuten und Therapeutinnen auf, weil ihr bisher niemand helfen konnte. Verzweifelt appelliert sie an den Therapeuten: »Helfen Sie mir. Ich halte es nicht mehr aus mit mir. Ich brauche Führung. Ich brauche andere Menschen so sehr, dass es ihnen zu viel wird. Ich brauche Sie.«
Petra ist als Einzelkind mit Eltern in einer zerrütteten Ehe aufgewachsen. Offenbar war sie kein Wunschkind. Ihre Mutter hat in ihrer Ambivalenz dem Kind gegenüber Unmögliches von ihrer Tochter verlangt: Petra war nie schön genug, adrett genug, zugewandt genug. Sie genügte nie, musste jedoch der Mutter immer Gesellschaft leisten. Vor der Scheidung versuchten Mutter und Vater, sie je auf ihre Seite zu ziehen. Die 10-jährige Petra versuchte verzweifelt, zu vermitteln. Insgeheim stand sie auf der Seite des Vaters.
Petra hat in Schule und Sport seit der Kindheit Höchstleistungen erbracht. Doch ihre Mutter war nie zufrieden mit ihr. Das hat in Petra schon früh eine ohnmächtige Wut und einen kaum erträglichen Hass zur Folge gehabt. Heute hat sie die Beziehung zur Mutter abgebrochen.
Petra leitet ein eigenes Reisebüro und hat es geschafft, mit einem exquisiten Angebot ein seit vielen Jahren florierendes Unternehmen zu schaffen. Dort ist sie glücklich und kann ihre Vorstellungen und ihren Perfektionismus verwirklichen. Sie lebte zehn Jahre in einer Ehe und hat eine kleine Tochter, die seit der Scheidung, ein Jahr zuvor, je die Hälfte der Zeit bei ihr und ihrem ehemaligen Mann lebt. Sie brach aus der Ehe aus, weil sie die Nähe nicht mehr aushielt.
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