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Die Kunst des guten Beendens

Titel: Die Kunst des guten Beendens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Ley
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sich« sterben, sterben an gebrochenem Herzen oder sie sterben einen seelischen Tod, der dann auch den Körper mit einbezieht. Am bekanntesten ist ein solcher Tod nach dem Tod eines Partners, und es scheint, dass die Seele dann beschließen kann, dass es Zeit ist zu gehen. Ethnologen und Anthropologen kennen diesen Tod von gesunden Menschen, die fest glauben, ihr Tod sei nahe, beispielsweise weil sie gegen ein Tabu verstoßen haben. Verzweiflung, Trauer und Depression bestehen bekanntlich nicht aus Luft, sondern korrespondieren im Gehirn und im Körper mit biochemischen Prozessen, die letztlich ein Versagen des Körpers herbeiführen können.
Die Lebenden und die Toten begegnen einander
    »Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen« – mit diesen Worten schließt der Sozialphilosoph André Gorz sein Buch Brief an D. Geschichte einer Liebe . Am 24. September 2007 wurde bekannt, dass dieser Satz wohl bereitsein Entschluss, mindestens aber ein starker Wunsch gewesen war. André Gorz und seine schwerkranke Frau Dorine, beide über achtzig Jahre alt, haben sich gemeinsam das Leben genommen. Die beiden Toten hätten Seite an Seite gelegen. Im Buch findet sich die Passage: »Nachts sehe ich manchmal die Gestalt eines Mannes, der auf einer leeren Straße in einer öden Landschaft hinter einem Leichenwagen hergeht. Dieser Mann bin ich. Und Du bist es, die der Leichenwagen wegbringt. Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche erhalten.« 58 Es sind unmissverständliche Worte.
    André Gorz hat ein Leben lang geschrieben. Er hat sich dafür stark gemacht, dass die Arbeit dem Leben und nicht das Leben der Arbeit dienen soll. Er engagierte sich für die Würde der Arbeit und für ein Grundeinkommen, ein Konsumgeld, das allen Menschen den Kauf des Lebensnotwendigen erlaubt. Und sein letztes Buch war ein Dank an seine Frau, mit der er sechzig Jahre gemeinsamen Lebens verbracht hatte.
    Offenbar hatten die Schmerzen seiner kranken Frau ein unerträgliches Maß erreicht. Nach einem Leben des Einsatzes für die Würde der Arbeit und des Lebens war nun offenbar der Entschluss gereift, es gemeinsam in Würde zu beenden.
    Auch der Dichter Gerhard Meier hätte seine Frau nicht überleben wollen. In seinem roten Büchlein Ob die Granatbäume blühen trauert er um seine Frau Dorli. 59 Es ist ein Brief, den er ihr schreibt, in der Du-Form – wie André Gorz. Er beschwört die gemeinsamen Erinnerungen, er erzählt von seinem jetzigen Leben, und er schreibt ihr von der Zeit, in der sie wieder zusammen sein werden. »Dorli, wenn wir wieder zusammen sind, gleiten du und ich in deinem Schattenboot von Walden her über die Waldenalp dahin, Richtung Lehnfluh, eskortiert von Kohlweißlingen, Distelfaltern, Abendpfauenaugen und einem Admiral.« Es sind die Schmetterlinge, die ihm seit dem Tod seiner Frau besonders »zugetan« sind. »Dorli, zuweilen stelle ich deine Gartenschuhe einbisschen zur Seite, wische herangewehtes Laub weg, Halme, trockene Erde. Dann stelle ich sie wieder hin, deine Schuhe« … »ab und zu tanzen wir zu Walzern von Chopin, du und ich, an Sonntagnachmittagen, in der unteren Stube«. Wenn er auf den Friedhof geht, hört er dort der Ulme zu, zu deren Füßen Dorlis Leib begraben liegt. Gerhard Meier spricht vom lieben Gott, der uns alles gibt und alles nimmt. Er spricht nicht vom Tod, sondern vom Abschied. Und davon, dass jetzt Dorli eine andere Charge, eine andere Aufgabe hat.
    Er beschwört auch andere, die schon gegangen sind, Proust, Nietzsche, Chopin, Tolstoj; sie alle sind in seinem Leben drin, er lebt mit ihren Erinnerungen, mit ihren Vorlieben und ihrem Erleben. Es ist alles immer da. Und seine verstorbenen Freunde, seine Nachbarn im Dorf und seine früheren Kindheitsfiguren: sie sind alle präsent, wenn er durchs Dorf geht, wenn er mit einem Freund über Leben und Tod sinniert. Immer wieder dieses »verrückte Bedürfnis, zurückzuschauen, (…) immer wieder die Fäden in den Griff zu bekommen, die einen verbinden mit dem Dahingegangenen, das doch immer wieder präsent ist. Und dabei der Gedanke, wie das in die Erde Gelegte eingeht ins Mineralische, Stoffliche, um dann in den Blumen wieder präsent zu werden und einen Duft zu verströmen.«
    Der Schriftsteller John Berger spaziert in seinem Werk Wo wir uns begegnen durch viele Städte wie Lissabon, Krakau, andere, und er trifft verstorbene Freunde und seine verstorbene Mutter. Er sitzt mit ihnen auf

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