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Die Kunst des guten Beendens

Titel: Die Kunst des guten Beendens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Ley
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bewegte, die Älteste war. Nochimmer wurde ich jünger geschätzt. Als ich um die sechzig war, veränderte sich etwas bei mir. Nun fühlte ich mich tatsächlich wie sechzig Jahre alt. Und ich war stolz darauf, so alt zu sein. Und ich verlor das Interesse, jünger zu wirken. Nun war meine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, zu spüren und zu vermitteln, wie ich mit sechzig Jahren voll im Leben stehe, das Leben auskoste und genieße. Es gab nichts mehr vorzugeben, weil das, was nun war, genug war. Ich fühlte mich im Vollbesitz meiner Kräfte, aber im Bewusstsein, dass nun mein drittes Lebensalter begann. Nun gab es einen Horizont, der sichtbar wurde: In einigen Jahren würde ich in den beruflichen Ruhestand treten, ich würde vielleicht Großmutter werden. Das waren gewaltige Veränderungen in meiner Wahrnehmung. Die Endlichkeit kam in Sicht.
    Ich betrachtete alte Familienfotos. Ich wollte wissen, wie meine Großmutter und meine Mutter mit sechzig Jahren ausgesehen hatten. Es waren alte Frauen. Ich fühlte mich anders.
    Und ich war im selben Alter. Die Zeiten hatten sich geändert. Ich kaufte mir ein neues Fahrrad und genoss es, Touren zu machen und meine Kräfte zu spüren. Ich ging weiterhin im Sommer baden, und im Winter besuchte ich die öffentliche Sauna. Ich ging nach wie vor tanzen. Ich genoss es, dass das in unserer heutigen Zeit selbstverständlich geworden war. Ältere Frauen müssen sich nicht verstecken, nicht mehr. Freunde um mich starben – in meinem Alter. Das ergab ein neues Lebensgefühl. Eine neue Solidarität mit Gleichaltrigen war im Entstehen. Nichts mehr war selbstverständlich. Das Leben schmeckte anders, einzigartiger und kostbarer.«
    Irene ist dabei, sich in der Kunst des allmählichen Beendens zu üben. Sie kann von der Wahrscheinlichkeit ausgehen, noch weitere zwei bis drei Jahrzehnte zu leben. Doch sie erlebt bereits ein neues Lebensgefühl. Das ist entscheidend, um die Akzeptanz das Älterwerdens leben zu können.
    Zwanzig Jahre später mag es anders aussehen.
    Die über achtzig Jahre alte Alice war ein Leben lang Frauenrechtlerin und als Journalistin, Frau und Mutter eine Kämpferin für eine gleichberechtigte Lebens- und Arbeitsweise von Frauenund Männern. Als sie die achtzig überschritten hat, hadert sie damit, dass sie von der journalistischen Bühne abtreten soll. Humorvoll schildert sie ihr Altwerden, das ihres Mannes und von Gleichaltrigen. Es gibt viel zu lachen bei ihren Schilderungen, wie mühsam das Zusammenleben wird. Sie entwickelt einen Galgenhumor, mit dem sie alles das schildert, was nicht mehr möglich ist: jung zu sein, sexuell aktiv zu sein, herumzureisen und zu publizieren – und gehört und gelesen zu werden. Und bei allem Humor ist unüberhörbar, dass Alice das Älterwerden einfach überhaupt nicht akzeptieren will. Als schließlich ihre Schwester langwierig und schmerzvoll stirbt, fasst sie einen Entschluss: Alice möchte bei ihrem eigenen Tod Regie führen. Wenn sie von anderen Menschen tatsächlich abhängig werden sollte, möchte sie die »Sterntaste« drücken, mit anderen Worten: sterben. Wenn schon die Sinne abnehmen im Alter, möchte sie sich ihren Eigensinn bewahren und das Recht auf ihren selbstgewählten Tod haben.
    Es ist eine Geschichte mit irritierendem Ende aus einem Roman von Benoîte Groult. 55 Aber auch die Konsequenz einer energischen, lebensvollen alten Frau, die nichts dem Zufall überlassen möchte. Und als Frau, die ein Leben lang für die Emanzipation der Frauen gekämpft hat, möchte sie auch der Natur und dem Älterwerden nichts schenken.
    Es ist möglicherweise ein Zukunftsszenario, ein solches eigenwilliges, selbstbestimmtes Beenden des Lebens. Letztlich, weil niemand zum Gehen bereit und die Angst vor dem Leiden groß ist. Noch ist das selbstverfügte Sterben in einem Land wie der Schweiz die Ausnahme, die unheilbar kranken Menschen vorbehalten ist. Erspart man sich mit der Sterbehilfe nur die Schmerzen, ausschließlich das Leiden – oder entgeht einem etwas anderes dabei?
    Eine sehr alte, weise Frau erzählte mir, dass es ihr jetzt darum gehe, gut zu Ende zu leben. In Schweizerdeutsch: »guet fertigläbe«. Sie schaute mich dabei mit wachen, vielleicht sogar ein bisschen neugierigen Augen an. Es klang, als wolle sie ihr Bestes tun, wisse aber, dass nicht alles in ihren Händenliege. Und ich spürte, dass sie bereit war, sich dem zu öffnen, was auf sie zukommen würde.
    Altwerden ist eine Kunst: die Kunst, das zu tun, was einem

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