Die Kunst des guten Beendens
hohes Anspruchsniveau erstrebt. Solche Kränkungen sind, wenn man sie bedenkt, relativ weit vom vitalen, inneren Kern eines Menschen entfernt. Ich plädiere hier dafür, zwischen den heutzutage in unseren Breitengraden ganz und gar normalen Ego-Bedürfnissen nach einem guten Leben im weitesten Sinn und dem inneren Kern bzw. der Seele eines Menschen zu unterscheiden. Dank des medizinischen und technologischen Fortschritts wird uns immer wieder vorgegeben, dass ein Leben ohne unnötigen Schmerz, dass normale Kinder und ein würdevoller Tod möglich sind.
Das ist nicht immer der Fall. Körper und Seele eines Menschen haben möglicherweise unterschiedliche Lebensaufgaben zu erfüllen. Es gibt eine These, dass Menschen nicht nur dank des medizinischen Fortschritts älter werden als bisher. Das Älterwerden hat auch damit zu tun, dass auf der seelischen Ebene noch gewisse Dinge erledigt sein wollen. Die Tatsache, dass der medizinische Fortschritt nicht voll greift und beispielsweise immer noch behinderte Menschen geboren werden, bedeutet eine Chance zum Üben von Mitmenschlichkeit, Mitgefühl und Liebe.
Sich vom Schicksal überraschen lassen und immer wieder staunen. Am eigenen vitalen Kern dranblieben. Sich überraschen lassen vom Lauf des Lebens. Wie viel Kontrolle braucht ein glückliches Leben?
5. Beenden als Vollenden und Vollbringen
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehen. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.
Rainer Maria Rilke
»Die wachsenden Ringe«, von denen Rilke spricht, sind die Tages-, Monats- und Jahresringe im Leben eines Menschen – wahrnehmbar und vielleicht sogar zählbar wie bei einem Baumstamm. Es sind auch innerliche Ringe – es ist innerliches Ringen –, innerliche Spuren des Erlebten und Erlittenen, des Versuchten und des Gelassenen. Die wachsenden Ringe sind eine Abfolge von kleinen und größeren Versuchen des Neubeginnens, von Wiederholungen und von versuchtem und realisiertem Beenden.
Vollenden, vollbringen, erfüllen – das klingt schon fast paradiesisch. Es klingt nach Ernte, nach Vollendung und Erfüllung. Doch jedes noch so gelungene Leben ist gleichzeitig auch ein Fragment. Mit diesem Paradox von Leben als Fragment und mögliche Vollendung leben wir. Es soll hier nicht das Positive am Beenden beschworen werden. Es gibt keinen Zwang zum Gelingen. Etwas zu beenden kann sehr schwer fallen und sehr schwierig werden. Es kann die Kräfte scheinbar übersteigen.
Beenden im persönlichen Erleben kann ein Vollbringen sein – nämlich dessen, was einem Menschen überhaupt möglich ist: eine neue Erfahrung, ein Aufbrechen einer Gewohnheit, ein neues Wahrnehmen, ein Ja-Sagen zu seinem eigenen unverwechselbaren Leben. Beenden bedeutet Entwicklung. Ich möchte Facetten dieser Entwicklung aufzeigen.
Die eigene Wirklichkeit ständigen Wandels anerkennen
Dies umfasst das Beginnen-Können und einen Beginn bejahen im Wissen, dass auch einmal ein Ende möglich sein wird. Nichts im Leben ist dauerhaft. Leben ist immer wieder Wahl, Entscheidung und Schicksal. Beginnen und Beenden gehören wesentlich zum Leben. Wer das bejahen und annehmen kann, hat es leichter als ein Mensch, der sich gegen das Leben und seine Dynamik stellt.
Ungewissheit und Ausweglosigkeit aushalten
Damit ist die Akzeptanz der offenen und damit ungewissen Qualität eines jeden Augenblicks gemeint. Leiden entsteht dadurch, dass man sich dieser Offenheit nicht stellen will. Es ist weiter das Aushalten von Ambivalenz – bis die Zeit reif wird, etwas, das notwendig ist, zu beenden. Bis es möglich ist, die sichere Bindung in sich selbst und zu anderen zu spüren – das, was als Kind nicht möglich war. Das kann im Erwachsenenalter unter günstigen Umständen erreicht werden.
Die eigene Entwicklung als Zauber des Beendens erleben
So wie jedem Beginnen ein Zauber innewohnen kann (etwas Neues beginnen, sich verlieben, reisen usw.), so kann auch dem Beenden ein Zauber innewohnen. Es ist einmal mehr ein seelischer Quantensprung dadurch möglich geworden, dass ein Beenden gewagt und realisiert wurde. Es ist damit etwas Wichtiges, weil die Entwicklung Förderndes im eigenen Leben vollbracht worden.
Sein inneres Vollenden wagen
Hier geht es um das Wagnis, das anstehende Beenden zu einer persönlichen Voll-Endung zu bringen: es ist genug, es ist gut so, es hat sich erfüllt. Etwas ist vollendet und vollbracht. Oder etwas ist nicht vollendet und kann in dieser
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