Die Kunst des guten Beendens
Parkbänken, unterhält sich mit ihnen, geht mit ihnen auf den Markt – und plötzlich sind sie wieder entschwunden. Er bleibt damit mit den Verstorbenen im Gespräch und überschreitet die übliche Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. 60
Leben und Tod kontrollieren
Das Ego wächst mit dem eigenen Einfluss, dem eigenen Entscheidungsspielraum. Viele stecken im Angstkreis des Perfektionismus.
Wolfgang Schmidbauer
Viele Menschen heute möchten ihr Leben planen und kontrollieren und sich damit gegen Verluste, Misserfolge und Unvorhergesehenes schützen. Sie möchten glücklich sein, sich sicher fühlen können, wollen keine Schmerzen und keine Ängste haben und alles möglichst vermeiden, was nicht in die eigenen Pläne passt. Die Wissenschaft stellt die Möglichkeiten dazu bereit bzw. erzeugt das Bedürfnis, davon Gebrauch zu machen. Zur Linderung von Schmerzen aller Art gibt es entsprechende Medikamente und Therapien. Zur Erreichung der gewünschten Körperformen werden kosmetische Operationen angeboten. Um keine möglicherweise entstellende Brille tragen zu müssen, wird eine Laserbehandlung angeboten. Zur Empfängnisverhütung werden verschiedene Mittel angeboten. Für die Geburt des Wunschkindes wird ein Kaiserschnitt gewünscht und vereinbart. Und noch zuvor wird das gewünschte Geschlecht des Kindes gewählt und mithilfe von Fruchtwasserpunktionen und anderen Methoden bestimmt, welches Leben lebenswert ist und welches nicht. Die in der Schweiz legale Praxis der Sterbehilfe lässt auch den Tod planen. So viel Kontrolle von Leben und Tod. In welchem Dienste steht sie? Was soll beendet werden, wenn so viel Planung und Kontrolle vorgenommen werden? Wie mächtig und ohnmächtig ist der Mensch?
Obwohl wir so sicher leben wie nie zuvor, werden viele Menschen von Ängsten aller Art geplagt. Angststörungen nehmen zu: Panikattacken, Phobien aller Art, psychosomatische Angstleiden, Leistungs- und Prüfungsängste, Beziehungsängste, Trennungsängste. Untersuchungen zufolge leidet jeder zehnte Mensch an Ängsten, die ihn beeinträchtigen,und jeder zwanzigste bezeichnet seine Ängste als ernsthaft sein Leben einschränkend. Und das in einer Zeit, in der hierzulande Frieden, Wohlstand, Versicherungsschutz und Rechtsstaat existieren. Es sind nicht die Naturkatastrophen oder der Terrorismus – diese zwar auch –, die am meisten gefürchtet werden. Es sind die persönlichen Kränkungen, die drohenden oder die tatsächlichen, die am meisten gefürchtet werden. Es sind Ängste, die das Selbstwertgefühl betreffen.
Der Beamte Urs liegt schlaflos da und spürt sein Herz rasen. Ob er einen Herzinfarkt kriegt? Er sollte längst wieder zum Arzt gehen. Der Stress im Job hat ungemein zugenommen. Er bewältigt sein Pensum kaum mehr. Und er fühlt sich nicht mehr so geschätzt wie bisher. Sein Kollege im Nebenbüro ist ihm gegenüber so kühl geworden. Wie seine Frau auch. Keine Lust mehr auf Sex. Ob sie einen Liebhaber hat? Und die Kinder lassen auch nichts mehr von sich hören. 61
Solche inneren Monologe verweisen auf tatsächliche oder drohende oder phantasierte Kränkungen und Überforderungen. Je größer die Sicherheit der Menschen im Laufe der Entwicklung geworden ist, desto mehr quälen sie die Sorgen um Verluste und Einschränkungen. Und je größer der Bereich wird, den der moderne Mensch durch materielle Güter, durch die soziale Position und durch Fachleute aller Ausrichtungen kontrollieren kann, desto größer werden die Ängste. Angst bewacht immer eine Grenze: die Grenze der Besitztümer in der Wohlstandsgesellschaft, die schon längst keine mehr ist: Haus, Garten und Auto. Ferienhaus und Zweitauto. Ehe und Kinder; gesunde, erfolgreiche Kinder. Potenz. Gesundheit und Wohlbefinden. Einfluss und Anerkennung. Bei einem solchen Anspruchsniveau machen mögliche Einschränkungen Angst, die jedem als lächerlich erscheinen, der ums Überleben kämpft. Angst und Kränkung sind kulturabhängig und formieren sich auf der jeweiligen Stufe von Sicherheit und Status neu.
Wie viel Kontrolle ist noch menschlich? Und wenn es dann heißt: Nur bitte kein behindertes Kind! Nur bitte keineschmerzvolle Geburt. Nur bitte kein Leiden in Krankheit und Sterben. Was dann? Es wird möglichst viel Planung und Kontrolle gewünscht, und wehe, die Pläne werden schicksalhaft verändert. Dann wird es als persönliche Kränkung erlebt. Das Erleben von Kränkungen hat mit dem Ego zu tun, das durch Wohlstand, Technik und Medizin ein sehr
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