Die Kunst des klugen Handelns: 52 Irrwege, die Sie besser anderen überlassen (German Edition)
Sinfonie nie komponiert worden, würde sie niemandem fehlen. Es gäbe keine wütenden Anrufe an den Intendanten mit dem Inhalt: »Bitte lassen Sie diese Sinfonie sofort komponieren und aufführen!« Kurzum: Was es gibt, bedeutet uns viel mehr als das, was fehlt. Die Wissenschaft nennt das den Feature-Positive Effect . Eine deutsche Übersetzung gibt es nicht.
Präventionskampagnen spielen mit diesem Effekt. »Rauchen führt zu Lungenkrebs« macht viel mehr Eindruck als »Nichtrauchen führt zu einem Leben ohne Lungenkrebs«. Wirtschaftsprüfer und andere Berufe, die mit Checklisten operieren, sind anfällig für den Feature-Positive Effect : Eine mangelnde Mehrwertsteuerabrechnung wird sofort aufgedeckt, weil sie auf der Checkliste steht, nicht aber artistische Betrügereien, wie wir sie bei Enron, Madoff und einer Reihe von »Rogue Traders« also »Schurken-Händlern« wie Nick Leeson oder Jérôme Kerviel kennenlernten, denen die Barings Bank oder die Société Générale zum Opfer fielen. Finanzkapriolen dieser Art stehen auf keiner Checkliste. Und es muss nicht mal um Verbrechen gehen: Bei einer Hypothekenbank wird ein Kreditrisiko mit hoher Präzision aufgedeckt, weil die Checkliste danach fragt, nicht aber die Abwertung der Immobilie durch den Bau einer Müllverbrennungsanlage in der unmittelbaren Nachbarschaft.
Angenommen, Sie sind Hersteller eines zweifelhaften Produkts, zum Beispiel einer Salatsoße mit übermäßigem Cholesteringehalt. Was tun Sie? Auf der Verpackung führen Sie 20 verschiedene Vitamine auf, die in der Soße enthalten sind, und verschweigen den Cholesterinwert. Die Absenz wird den Konsumenten nicht auffallen. Und die positiven – präsenten – Eigenschaften stellen sicher, dass sie sich in Sicherheit fühlen.
Im Wissenschaftsbetrieb stoßen wir ständig auf den Feature-Positive Effect . Die Bestätigung von Hypothesen führt zu Publikationen, und die werden in herausragenden Fällen mit Nobelpreisen gefeiert. Die Falsifikation einer Hypothese hingegen bekommen Sie kaum in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert, und meines Wissens gab es noch nie einen Nobelpreis dafür. Dabei ist die Falsifikation einer Hypothese ein wissenschaftlich genauso wertvolles Resultat wie eine Bestätigung. Wegen des Effekts sind wir auch viel anfälliger für positive Empfehlungen (tun Sie X) als für negative (lassen Sie Y) – egal, wie sinnlos oder sinnvoll sie sind.
Fazit: Wir haben Schwierigkeiten, Nichtgeschehnisse (»nonoccurrences«) zu denken. Wir sind blind für das, was nicht ist. Wir realisieren, wenn Krieg herrscht – denken aber nicht an die Absenz von Krieg, wenn Friede herrscht. Wenn wir gesund sind, ist uns selten bewusst, dass wir auch krank sein könnten. Oder wir steigen in Mallorca aus dem Flieger und sind keinesfalls verblüfft, dass wir nicht abgestürzt sind. Würde es uns gelingen, auch nur ab und zu die Absenz zu denken, wären wir wohl zufriedener. Aber das ist harte Denkarbeit. Die größte philosophische Frage lautet: Warum ist etwas und nicht einfach nichts? Erwarten Sie auf die Schnelle keine Antwort, aber die Frage ist ein nützliches Mittel gegen den Feature-Positive Effect .
WARUM DIE ZIELSCHEIBE UM DEN PFEIL HERUMGEMALT WIRD
Rosinenpicken
Hotels zeigen sich auf ihren Webseiten im besten Licht. Die Fotos sind sorgfältig ausgewählt. Was schön und edel erscheint, kommt auf die Website. Unschöne Perspektiven, tropfende Rohre im Zimmer und stillos eingerichtete Frühstücksräume bleiben draußen. Natürlich wissen Sie das, und so zucken Sie höchstens mit den Achseln, wenn Sie in der schäbigen Lobby einchecken. Sie haben es ja geahnt. Was das Hotel getan hat, nennt man Rosinenpicken , auf Englisch: Cherry Picking . Mit der gleichen gedämpften Erwartungshaltung, wie Sie ein Hotel betreten, studieren Sie auch Verkaufsprospekte für Autos, Liegenschaften oder Anwaltskanzleien. Sie kennen das Prinzip, und Sie fallen nicht darauf hinein.
Anders reagieren Sie auf die Geschäftsberichte von Firmen, von Stiftungen und staatlichen Organisationen. Hier rechnen Sie mit einer objektiven Darstellung. Fälschlicherweise, denn auch diese Organe picken Rosinen: Erfüllte Ziele werden groß aufgemacht, nicht erfüllte gar nicht erst erwähnt.
Angenommen, Sie sind Bereichsleiter. Die Geschäftsleitung lädt Sie ein, den »Stand der Dinge« Ihrer Abteilung zu präsentieren. Wie gehen Sie vor? Sie werden die meisten PowerPoint-Folien zu den Triumphen und die restlichen zu
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