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Die Kunst des Pirschens

Titel: Die Kunst des Pirschens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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lebensspendende Funktion. Sie sagte, das Erinnern sei ganz leicht, wenn man das Feld der den Körper umgebenden Reize verkleinere.
    Dies sei auch der Grund für jenen Kasten. Der Atem begünstige dann ein immer tieferes Erinnern. Theoretisch müssen die Pirscher sich an jedes Gefühl erinnern, das sie je in ihrem Leben hatten, und dieser Prozeß beginnt mit einem Atemzug. Florinda ermahnte mich aber, daß die Dinge, die sie mich lehrte, nur Vorübungen seien und daß sie mich später, unter anderen Bedingungen, die Feinheiten der Kunst lehren werde.
    Florinda sagte, ihr Wohltäter habe ihr aufgetragen, eine Liste der wiederzuerlebenden Ereignisse anzulegen. Er sagte ihr, der Vorgang müsse mit einem ersten Atemzug beginnen. Der Pirscher beginnt dabei mit dem Kinn auf der rechten Schulter und atmet langsam ein, während er den Kopf um 180 Grad auf die andere Seite dreht. Der Atemzug endet über der linken Schulter. Sobald das Einatmen beendet ist, fällt der Kopf in eine entspannte Haltung zurück.
    Beim Ausatmen blickt er gerade nach vorn. Dann nimmt der Pirscher sich das Ereignis vor, das am Anfang seiner Liste steht, und verweilt dabei, bis alle darin investierten Gefühle nacherlebt sind. Während der Pirscher sich an die Gefühle erinnert, die er einst in das Ereignis, in das er sich erinnert, investierte, atmet er langsam ein und bewegt den Kopf von der rechten Schulter zur linken. Der Zweck dieses Atmens ist die Wiederherstellung der Energie. Florinda behauptete, daß der leuchtende Körper dauernd spinnenwebartige Fäden hervorbringt, die, von jederlei Emotionen angetrieben, ans der leuchten den Masse hinausprojiziert werden. Daher ist jede Situation der menschlichen Interaktion - oder jede Situation, bei der Gefühle beteiligt sind - eine potentielle Schwächung des leuchtenden Körpers. Indem die Pirscher von rechts nach links einatmen, während sie sich an ein Gefühl erinnern, nehmen sie - durch die Magie des Atmens - die Fäden wieder auf, die sie einst zurückgelassen haben. Der unmittelbar anschließende Atemzug ist ein Ausatmen, das von links nach rechts erfolgt. Mit diesem stoßen die Pirscher die Fäden aus, die andere, an dem erinnerten Ereignis beteiligte leuchtende Körper in ihnen zurückgelassen haben.
    Sie sagte, daß dies die obligatorischen Vorübungen seien, die alle Mitglieder ihres Trupps als Einführung in die anspruchsvolleren Übungen der Kunst hatten durchlaufen müssen. Solange der Pirscher nicht diese Vorübungen absolviert, um die Fäden, die er in der Welt hinterließ, zurückzuholen und besonders, um jene auszustoßen, die andere in ihm hinterließen, gibt es für ihn keine Möglichkeit, die kontrollierte Torheit zu meistern, weil nämlich jene fremden Fäden die Grundlage unserer grenzenlosen Bereitschaft zur Überheblichkeit sind. Um kontrollierte Torheit zu praktizieren, muß man, da es nicht zulässig ist, andere Menschen verspotten, zu strafen oder sich ihnen überlegen zu fühlen, die Fähigkeit haben, über sich selbst zu lachen.
    Eine der Folgen einer detaillierten Rekapitulation, so sagte Florinda, sei das aufrichtige Lachen, das uns angesichts der langweiligen Wiederholung unserer Selbstwertschätzung ankommt und das den Kern aller menschlichen Interaktion bildet.
    Florinda betonte, daß die Regel das Pirschen und das Träumen als Künste definiert. Sie sind also etwas, das man ausübt. Und sie sagte, daß es die lebensspendende Natur des Atems sei, die ihm seine reinigende Kraft verleiht. Diese Eigenschaft aber macht das Rekapitulieren zu einer praktischen Angelegenheit.
    Bei unserer nächsten Zusammenkunft faßte Florinda ihre, wie sie sagte, in letzter Sekunde erteilten Anweisungen zusammen. Sie sagte, nachdem der Nagual Juan Matus und sein Kriegertrupp zu dem Urteil gelangt seien, daß ich mich nicht mit der Welt des alltäglichen Lebens zu befassen brauchte, hätten sie beschlossen, mich lieber das Träumen statt das Pirschen zu lehren. Dieses Urteil, so erklärte sie, war inzwischen radikal abgeändert worden, und die Krieger sahen sich nun in einer mißlichen Lage; sie hatten keine Zeit mehr, mich das Pirschen zu lehren. Florinda mußte am Rande der dritten Aufmerksamkeit zurückbleiben, um ihre Aufgabe zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ich bereit dafür wäre, zu beenden. Andererseits wäre sie, sollte ich mit ihnen zusammen diese Welt verlassen, von dieser Pflicht befreit.
    Florinda sagte, ihr Wohltäter habe die drei Grundtechniken des Pirschens -den dunklen

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