Die Kunst des Träumens
Unvermittelt wechselte sie das Thema und fragte mich: »Was wünscht du dir als Geschenk?«
»Kein Geschenk für mich. Das sagte ich dir bereits.«
»Ichbleibe dabei. Ich muß dir ein Geschenk machen, und du mußt es annehmen. Das ist unsere Vereinbarung.«
»Unsere Vereinbarung ist, daß wir dir Energie schenken. Also, nimm sie von mir. Das geht auf meine Rechnung. Mein Geschenk für dich.«
Die Frau schien verblüfft. Und ich sagte ihr immer wieder, sie solle doch meine Energie nehmen, ich hätte nichts dagegen. Ich sagte ihr sogar, daß ich sie ungeheuer gern hätte. Natürlich meinte ich es aufrichtig. Sie hatte etwas sehr Trauriges und zugleich sehr Faszinierendes an sich.
»Komm, gehen wir wieder in die Kirche«, murmelte sie. »Wenn du mir wirklich ein Geschenk machen willst«, sagte ich. »nimm mich mit auf einen Spaziergang durch die Stadt, im Mondschein.«
Sie nickte zustimmend. »Vorausgesetzt, daß du kein Wort sprichst«, meinte sie.
»Warum nicht?« fragte ich - aber ich wußte die Antwort schon »Weil wir träumen«, sagte sie. »Ich werde dich tiefer in meinen Traum mitnehmen.«
Und sie erklärte mir, daß ich, solange wir in der Kirche blieben, genügend Energie hätte zum Denken und zum Gespräch. Doch außerhalb der Bannmeile der Kirche sei dies etwas anderes.
»Wieso das?« fragte ich unbefangen.
In sehr ernstem Ton, der nicht nur das Unheimliche an ihr unterstrich, sondern mich erschreckte, sagte die Frau: »Weil es kein Draußen gibt. Dies ist ein Traum. Du stehst an der vierten Pforte des Träumens und träumst meinen Traum.« Es sei ihre Kunst, verriet sie mir. ihre Absicht projizieren zu können - und alles, was ich um mich her sah, sei ihre Absicht. Flüsternd sagte sie, daß die Kirche und die ganze Stadt nur die Folge ihrer Absicht wären. Sie existierten nicht, und dennoch existierten sie. Mir in die Augen blickend, fügte sie hinzu, daß es eines der großen Geheimnisse sei, in der zweiten Aufmerksamkeit die Zwillingspositionen des Träumens zu beabsichtigen. Man könne es tun. aber man könne es nicht erklären oder verstehen. Und dann sagte sie mir, sie stamme aus einer Linie von Zauberern, die es verstanden, sich in der zweiten Aufmerksamkeit umherzubewegen, indem sie ihre Absicht projizierten. Sie erzählte, daß die Zauberer ihrer Linie die Kunst praktizierten, im Traum ihre Gedanken zu projizieren, um eine getreuliche Reproduktion jedes Gegenstandes und jedes Bauwerks, jeder Landschaft und jedes Schauplatzes zu erreichen, ganz nach ihrem Belieben.
Die Zauberer ihrer Linie, sagte sie, fingen damit an, daß sie ein einfaches Objekt anstarrten und es in allen Details ihrem Gedächtnis einprägten. Dann schlossen sie die Augen und visualisierten das Objekt, immer wieder ihr inneres Bild korrigierend, bis sie es mit geschlossenen Augen in aller Vollständigkeit sehen konnten.
Der nächste Schritt in der Entwicklung ihres Systems war. mit dem Objekt zusammen zu träumen und im Traum - aus der Sicht ihrer eigenen Wahrnehmung - eine totale Materialisierung des Objekts zu erzeugen. Dies nannten sie. so sagte die Frau, den ersten Schritt zur totalen Wahrnehmung.
Von einem einfachen Objekt schritten jene Zauberer fort zu immer komplexeren Gegenständen. Ihr endliches Ziel war. daß sie alle zusammen eine ganze Welt visualisierten, dann diese Welt träumten und so ein ganz authentisches Reich neu erschufen, wo sie existieren konnten.
»Als die Zauberer meiner Linie das zu tun vermochten«, fuhr die Frau fort, »da konnten sie auch ohne weiteres einen anderen in ihre Absicht, in ihren Traum hineinziehen. Das ist es, was ich jetzt mit dir mache und was ich mit allen Naguals eurer Linie gemacht habe.«
Die Frau kicherte. »Du darfst es wohl glauben«, sagte sie. als hätte ich daran gezweifelt. »Ganze Bevölkerungen verschwanden so im Traum. Dies ist der Grund, warum ich dir sagte, daß diese Kirche und diese Stadt eines der Geheimnisse des Beabsichtigens in der zweiten Aufmerksamkeit sind.«
»Du sagst, daß ganze Bevölkerungen auf diese Weise verschwanden. Wie war das möglich?« fragte ich.
»Sie visualisierten eine Landschaft und erschufen sie dann im Traum noch einmal neu«, antwortete sie. »Du hast noch nie etwas visualisiert, darum ist es gefährlich für dich, in meinen Traum zu kommen.«
Und sie warnte mich, daß es gefährlich sei, die vierte Pforte zu durchschreiten und an Orte zu reisen, die nur in der Absicht eines anderen existierten; denn alle Gegenstände in
Weitere Kostenlose Bücher