Die Kunst des Träumens
Sie war unvollendet. Überall lagen rechteckige Kalksteinblöcke umher. Es gab keine Häuser oder andere
Gebäude rund um die Kirche. Unheimlich war die Szene im Mondlicht.
»Wohin gehen wir?« fragte ich sie.
»Nirgendwohin«, antwortete sie. »Wir sind einfach herausgekommen, um mehr Platz zu haben, um vertraulich zu sprechen. Hier können wir schwatzen nach Herzenslust.« Sie bedeutete mir, mich auf einen rohen, halb schon behauenen Steinblock zu setzen. »Die zweite Aufmerksamkeit hat unendliche Schätze zu bieten, die der Entdeckung harren«, fing sie an. »Von entscheidender Wichtigkeit ist die Ausgangsposition, in die der Träumer seinen Körper bringt. Und genau hier liegt das Geheimnis der alten Zauberer, die schon zu meiner Zeit so alt waren. Stell dir nur vor.«
Sie saß so nah, daß ich ihre Körperwärme fühlte. Sie legte mir den Arm um die Schulter und drückte mich an ihren Busen. Ihr Körper hatte einen höchst eigenartigen Duft. Es erinnerte mich an Bäume oder an Salbeibüsche. Nicht daß sie Parfüm aufgelegt hätte. Ihr ganzes Wesen schien diesen charakteristischen Duft weiter Pinien-Wälder zu verströmen. Auch war ihre Körperwärme anders als meine, anders als bei jedem, den ich kannte. Es war eine kühle, herbfrische Wärme, ausgeglichen und gleichmäßig. Mir kam der Gedanke in den Sinn, daß ihre Wärme gnadenlos berückend sei, aber ohne Eile.
Und dann begann sie mir ins linke Ohr zu flüstern. Sie sagte, daß die Gaben, die sie den Naguals meiner Linie geschenkt habe, etwas damit zu tun hätten, was die alten Zauberer die Zwillingspositionen nannten. Das heißt, die Ausgangsposition, in die der Träumer seinen physischen Körper bringt, um mit dem Träumen zu beginnen, die eine Spiegelung finde in der Position, in die er seinen Energiekörper bringt, um seinen Montagepunkt an einer nach Belieben gewählten Stelle zu fixieren. Diese zwei Positionen bilden, sagte sie, eine Einheit, und die alten Zauberer brauchten Jahrtausende, um die perfekte Beziehung zwischen den beiden Positionen zu finden. Kichernd meinte sie. daß die heutigen Zauberer niemals Zeit oder Lust hätten, solche Mühen auf sich zu nehmen - und die Männer und Frauen meiner Linie könnten sich glücklich schätzen, sie zu haben, die ihnen solche Geschenke machte. Ihr Lachen hatte einen bemerkenswerten, kristallklaren Klang.
Ihre Erklärung der Zwillingspositionen hatte ich nicht ganz verstanden. Ganz unbefangen sagte ich ihr. daß ich diese Dinge nicht praktizieren, sondern nur als intellektuelle Möglichkeiten kennenlernen wolle.
»Was genau möchtest du wissen?« fragte sie leise. »Erkläre mir, was du unter den Zwillingspositionen verstehst, oder der Ausgangsposition, in die der Träumer seinen Körper bringt, um mit dem Träumen zu beginnen.«
»Wie legst du dich hin. um mit dem Träumen anzufangen?« fragte sie.
»Ich habe keine feste Gewohnheit. Don Juan hat nie Wert darauf gelegt.«
»Nun. ich lege Wert darauf«, sagte sie und stand auf. Sie wechselte mit mir den Platz. Sie saß nun zu meiner Rechten und flüsterte mir ins andere Ohr. daß die Position, in die man den Körper bringt - nach allem, was sie wisse - von höchster Bedeutung sei. Um dies auszuprobieren, schlug sie mir eine heikle, aber ganz einfache Übung vor.
»Lege dich zu Beginn des Träumens auf die rechte Seite, die Knie leicht angezogen«, sagte sie. »Die Disziplin besteht darin, diese Position beizubehalten und in ihr einzuschlafen. Im Träumen besteht die Übung nun darin, daß du träumst, dich genau in derselben Position hinzulegen und wiederum einzuschlafen.«
»Und was bewirkt das?« fragte ich.
»Es bewirkt, daß der Montagepunkt genau - ja, genau - an der Stelle bleibt, wo er sich im Augenblick des zweiten Einschlafens befindet.«
»Was ist das Ergebnis einer solchen Übung?«
»Die totale Wahrnehmung. Ich bin überzeugt, deine Lehrer haben dir gesagt, daß meine Geschenke die Gaben totaler Wahrnehmung sind.«
»Ja. Aber ich weiß nicht recht, was totale Wahrnehmung bedeutet«, log ich.
Sie ging über meinen Einwand hinweg und verriet mir dann die vier Variationen dieser Übung, nämlich das Einschlafen auf der rechten Seite, auf der linken Seite, auf dem Rücken und auf dem Bauch. Beim Träumen bestand die Übung nun darin, ein zweites Mal in der gleichen Position einzuschlafen, in der man mit dem 714
Träumen begonnen hatte. Sie verhieß mir außerordentliche Resultate, die, wie sie sagte, nicht vorhersehbar wären.
Weitere Kostenlose Bücher