Die Kunst des Träumens
anbiete, aber sie müsse dennoch dafür bezahlen Sie müsse mir etwas von ähnlichem Wert schenken.
Während ich sie sprechen hörte, wurde mir bewußt, daß sie spanisch mit einem höchst auffälligen, fremden Akzent sprach. Bei jedem Wort fügte sie der mittleren Silbe noch ein Phonem hinzu. Nie im Leben hatte ich jemanden so sprechen hören.
»Ihr Akzent ist ganz ungewöhnlich«, sagte ich. »Wo stammt er her?«
»Beinah aus der Ewigkeit«, sagte sie seufzend. Jetzt hatten wir Kontakt miteinander. Ich verstand, warum sie seufzte. Sie war von beinah ewiger Dauer, während ich vergänglich war. Das war mein Vorteil. Die dem Tode Trotzende hatte sich in eine Ecke manövriert, und ich war frei. Ich sah sie genauer an. Sie war anscheinend fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt. Sie war eine Indianerin von durchaus dunklem Typ, beinah stämmig, aber nicht fett oder gar schwer. Die Haut ihrer Hände und Arme war glatt, die Muskeln fest und jugendlich. Sie war etwa einen Meter sechzig, schätzte ich. Sie trug ein langes Kleid, ein schwarzes Schultertuch und Guaraches. In ihrer knienden Haltung sah ich auch ihre glatten Fersen und ein Stück ihrer kräftigen Waden. Ihre Taille war schlank. Sie hatte große Brüste, die sie nicht unter ihrem Shawl verbergen konnte oder auch wollte. Ihr Haar war jettschwarz und zu einem langen Zopf geflochten. Sie war nicht schön, aber auch nicht häßlich. Ihre Züge waren in keiner Weise auffällig. Unmöglich konnte sie einen faszinieren, dachte ich, bis auf ihre Augen, die sie hinter gesenkten Lidern verbarg. Ihre Augen waren wunderbar - klar und voll Frieden. Abgesehen von Don Juan, hatte ich niemals so strahlende und lebendige Augen gesehen.
Ihre Augen nahmen mir jede Befangenheit. Solche Augen konnten nichts Böses wollen. Plötzlich war ich voll Vertrauen und Optimismus. Ich hatte das Gefühl, sie schon mein Leben lang zu kennen. Aber noch etwas wurde mir stark bewußt: meine emotionale Instabilität. Schon in Don Juans Welt hatte sie mir immer zu schaffen gemacht, mich hoch und nieder ziehend wie ein Jo-Jo. Ich hatte Augenblicke totalen Vertrauens und Durchblicks, nur um im nächsten Moment von abgründigem Zweifel und Mißtrauen geplagt zu sein. Diesmal würde es nicht anders sein. Mein Mißtrauen meldete sich ganz plötzlich mit dem warnenden Gedanken, daß ich völlig in den Bann dieser Frau geraten könnte.
»Sie haben Spanisch erst spät im Leben gelernt, nicht wahr?« sagte ich, nur um meine Gedanken abzuschütteln - bevor sie sie erraten konnte. »Erst gestern«, erwiderte sie, in glockenhelles Lachen ausbrechend, wobei ihre kleinen, überraschend weißen Zähne wie Perlen schimmerten.
Leute drehten sich um und sahen uns an. Ich senkte die Stirn, wie in tiefem Gebet. Die Frau rückte näher heran. »Gibt es einen Ort, wo wir sprechen können?« fragte ich. »Wir sprechen hier«, sagte sie. »Hier habe ich mit allen Naguals eurer Linie gesprochen. Wenn du flüsterst, wird niemand merken, daß wir reden.«
Ich brannte darauf, sie nach ihrem Alter zu fragen. Aber eine ernüchternde Erinnerung bewahrte mich davor. Ich erinnerte mich an einen Freund, der mir vor Jahren alle möglichen Fallen gestellt hatte, um mich so weit zu bringen, daß ich ihm mein Alter verriet. Ich verabscheute solch kleinliche Neugier, und jetzt war ich nahe daran, mich genauso zu verhalten. Sofort ließ ich es.
Ich wollte ihr aber von meinem Konflikt erzählen, nur um das Gespräch in Gang zu halten. Sie schien zu wissen, was mir durch den Kopf ging. Mit einer freundlichen Geste drückte sie mir den Arm, als wollte sie sagen, daß wir uns verstanden. »Statt mir ein Geschenk zu machen, könnten Sie mir nicht etwas sagen, was mir helfen würde auf meinem Weg?« bat ich. Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. »Wir sind extrem verschieden.
Verschiedener, als ich es für möglich gehalten hätte.«
Sie stand auf und glitt seitlich aus dem Betstuhl. Tief knickste sie vor dem Hauptaltar. Sie bekreuzigte sich und gab mir ein Zeichen, ihr zu einem großen Seitenaltar zu folgen, im linken Schiff.
Wir knieten vor einem lebensgroßen Kruzifix. Bevor ich Zeit fand, etwas zu sagen, sprach sie zu mir. »Ich lebe schon sehr, sehr lange«, sagte sie. »Der Grund für mein langes Leben ist, daß ich die Bewegungen und Verlagerungen meines Montagepunktes kontrolliere. Auch bleibe ich nie zu lange hier in eurer Welt. Ich muß sparsam umgehen mit der Energie, die ich von den Naguals eurer Linie
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