Die Kunst des Träumens
überhaupt keinen Mut zu haben glaubte, führte er mich hinaus in die Berge. Er lebte im Norden Mexikos, und stets hatte er mir den Eindruck gemacht, als sei er ein einsamer Zauberer, ein von allen vergessener alter Mann, völlig außerhalb des allgemeinen Lebens stehend. Dennoch hielt ich ihn für einen Mann von überragender Intelligenz. Und darum war ich bereit, mich mit manchen seiner Eigenheiten abzufinden, die ich für exzentrische Marotten hielt. Die Schläue der Zauberer, in Jahrhunderten geschärft, war Don Juans hervorstechendster Wesenszug. Er sorgte dafür, daß ich in meinem normalen Bewusstseinszustand möglichst viel verstand, und dann versetzte er mich in die zweite Aufmerksamkeit, wo ich schier alles, was er mich lehrte, verstand oder zumindest bereitwillig aufnahm. Dies führte nachgerade zu einer Zweiteilung bei mir. Bei normalem Bewusstsein verstand ich nicht, wieso ich gerne bereit war, seine exzentrische Art ernstzunehmen. In der zweiten Aufmerksamkeit verstand ich alles. Er war überzeugt, daß die zweite Aufmerksamkeit uns allen zugänglich sei; daß wir aber, indem wir eigensinnig an unserer unbedarften Rationalität festhalten, die zweite Aufmerksamkeit mehr oder minder entschlossen von uns fernhielten. Er stellte sich vor, daß das Träumen imstande sei. jene Schranken zu durchbrechen, die uns die zweite Aufmerksamkeit versperren. An jenem Tag, als er mich in die Hügel der Wüste von Sonora führte, zu einer Begegnung mit den anorganischen Wesen, war ich in meinem normalen Bewußtseinszustand. Und doch wußte ich irgendwie, daß mir etwas Unglaubliches bevorstand. In der Wüste hatte es leicht geregnet. Der rötliche Sand war noch feucht und haftete beim Gehen an den Gummisohlen meiner Stiefel. Immer wieder musste ich gegen Steine treten, um die schweren Stollen abzulösen. Wir wanderten in östlicher Richtung, gegen die Hügel hinauf. Als wir eine enge Schlucht zwischen zwei Bergkuppen erreichten, blieb Don Juan stehen. »Dies ist ein idealer Platz, um deine Freunde herbeizurufen«, sagte er.
»Warum nennst du sie meine Freunde?«
»Sie selbst haben dich ausgesucht. Wenn sie so etwas tun. so heißt dies, daß sie eine Verbindung wünschen. Ich sagte dir doch, daß die Zauberer freundschaftliche Bindungen mit diesen Wesen ein- gehen. Dein Fall ist ganz vorbildlich. Du brauchtest ihnen nicht mal ein Angebot zu machen.«
»Worin besteht solch eine Freundschaft. Don Juan?«
»Sie besteht in wechselseitigem Austausch von Energie. Die anorganischen Wesen liefern ihr hohes Bewußtsein, und die Zauberer geben ihr gesteigertes Bewusstsein und ihre große Energie. Das positive Ergebnis ist ein gleichwertiger Tausch. Das negative besteht in Abhängigkeit auf beiden Seiten. Die alten Zauberer liebten ihre Verbündeten. Tatsächlich liebten sie ihre Verbündeten mehr als ihre Mitmenschen. Darin sehe ich eine furchtbare Gefahr.«
»Was rätst du mir zu tun. Don Juan?«
»Rufe sie herbei. Lerne sie kennen, und dann entscheide selbst, was du zu tun hast.«
»Was soll ich tun, um sie herbeizurufen?«
»Stelle dir vor deinem inneren Auge ihr Bild vor. Sie haben dich im Traum an ihre Gegenwart gewöhnt, weil sie bei dir eine Erinnerung an ihre Gestalt hinterlassen wollten. Und jetzt ist es Zeit, diese Erinnerung wachzurufen.«
Don Juan befahl mir, die Augen zu schließen und sie geschlossen zu halten. Dann führte er mich zu ein paar Felsblöcken und hieß mich niedersitzen. Ich spürte die Härte und Kälte der Steine. Ihre Oberfläche war leicht abschüssig. Ich konnte mich kaum im Gleichgewicht halten.
»Bleib sitzen und visualisiere ihre Gestalt, bis sie genauso aussehen wie in deinen Träumen«, flüsterte mir Don Juan ins Ohr. »Laß es mich wissen, wenn du sie vor dir siehst.« Schnell und mühelos gelang es mir, ein vollständiges Bild ihrer Gestalt vor meinem inneren Auge wachzurufen, genau wie in meinen Träumen. Ich war gar nicht überrascht, daß es so leicht ging. Was mich aber erschreckte, war, daß ich kein Wort hervorbringen, auch die Augen nicht öffnen konnte, so verzweifelt ich mich auch bemühte, Don Juan wissen zu lassen, daß ich ihr Bild vor mir sah. Dabei war ich eindeutig wach, und ich hörte alles. Ich hörte Don Juan sagen: »Jetzt darfst du die Augen öffnen.« Ich öffnete sie mühelos. Ich saß mit gekreuzten Beinen auf den Steinen, aber es waren nicht dieselben, die ich unter mir gespürt hatte, als ich mich setzte. Don Juan stand rechts hinter mir. Ich wollte mich
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