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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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umdrehen und ihn ansehen, aber er zwang meinen Kopf nach vorne. Und dann sah ich zwei dunkle Gestalten, wie zwei dünne Baumstämme, direkt vor mir.
    Verblüfft starrte ich sie an; sie waren nicht mehr so hoch wie in meinen Träumen; sie waren auf die Hälfte ihrer Größe geschrumpft. Auch waren es keine Gestalten von düsterer Leuchtkraft mehr, sondern zwei dichte, dunkle, beinah bedrohliche Pflöcke.
    »Steh auf und packe einen von ihnen«, befahl mir Don Juan, »und laß nicht los. ganz gleich, wie er dich schüttelt.« So etwas hatte ich nun gar nicht im Sinn, doch eine unbekannte Kraft hieß mich gegen meinen Willen aufstehen. In diesem Moment war mir völlig klar, daß ich schließlich tun würde, was er mir befohlen hatte, auch wenn ich nicht die bewußte Absicht hatte, es zutun. Mechanisch näherte ich mich den beiden Gestalten, und das Herz pochte mir bis zum Hals hinauf. Ich packte mir die Gestalt rechts von mir. Und dann spürte ich einen elektrischen Schlag, der mich beinah zwang, das schwarze Gebilde fallenzulassen. Wie aus weiter Feme drang Don Juans Stimme zu mir. »Wenn du ihn fallen lässt, ist es um dich geschehen«, sagte er. Ich umklammerte die Gestalt, die sich wand und aufbäumte. Nicht etwa wie ein kräftiges Tier, sondern eher wie etwas Luftiges und Leichtes, das aber stark elektrisch aufgeladen war. Eine ganze Weile rollten und wälzten wir uns über den Sand am Boden der Schlucht. Das Wesen versetzte mir einen Stromschlag nach dem anderen - eine widerliche Art von Elektrizität. Ich fand sie widerlich, weil ich sie ganz anders empfand als die Elektrizität, die ich aus unserer normalen Welt kannte. Wenn sie in meinen Körper fuhr, kitzelte es und zwang mich, wie ein Tier aufzuheulen und zu knurren, nicht vor Qual, sondern aus einer sonderbaren Wut. Endlich wurde das Wesen zu einer reglosen, beinah festen Form unter mir. Es lag ruhig da. Ich fragte Don Juan, ob es tot sei. hörte aber meine eigene Stimme nicht.
    »Ausgeschlossen«, sagte irgend jemand lachend - jemand, der nicht Don Juan war.
    »Du hast nur seine Energieladung erschöpft. Steh aber nicht auf. Bleib noch einige Zeit dort liegen.« Ich sah Don Juan fragend an. Er musterte mich neugierig. Dann half er mir auf die Beine. Die dunkle Gestalt blieb am Boden liegen. Ich wollte Don Juan fragen, ob alles in Ordnung sei mit dem dunklen Wesen. Wieder konnte ich meine Frage nicht äußern. Dann tat ich etwas sehr Ungewöhnliches. Ich nahm dies alles, was hier geschah, für Realität. Bis zu diesem Moment hatte sich irgend etwas in mir an meine Vernunft geklammert und das Geschehen als Traum gewertet, als einen von Don Juans Zaubertricks ausgelösten Traum. Ich trat zu der Gestalt am Boden und versuchte sie hochzuheben. Ich konnte sie aber nicht mit den Armen umfangen, weil sie keine feste Masse hatte. Ich war verwirrt. Die gleiche Stimme wie vorhin, nicht aber Don Juans Stimme, befahl mir, mich auf das anorganische Wesen zu legen. Ich tat es, und mit einer einzigen Bewegung standen wir beide auf, das anorganische Wesen wie ein dunkler Schatten an mir haftend. Es löste sich dann von mir und verschwand - und hinterließ mir ein äußerst angenehmes Gefühl der Vollständigkeit.
    Ich brauchte länger als vierundzwanzig Stunden, um meine Selbstkontrolle ganz wiederzufinden. Die meiste Zeit schlief ich. Don Juan schaute manchmal nach mir und stellte immer wieder die gleiche Frage: »War die Energie des anorganischen Wesens eher wie Feuer oder wie Wasser?«
    Meine Kehle schien wie versengt. Ich konnte ihm nicht sagen, daß die Stromstöße, die ich gespürt hatte, sich wie Strahlen elektrisierten Wassers angefühlt hatten. Ich habe nie im Leben so etwas wie Strahlen elektrisierten Wassers gespürt. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, so etwas herzustellen oder zu fühlen, aber dies war die Vorstellung, die mir vor Augen stand, jedesmal wenn Don Juan mich mit seiner Frage bedrängte.
    Don Juan schlief, als ich endlich wußte, daß ich ganz wiederhergestellt war. Weil ich glaubte, daß seine Frage sehr wichtig war, weckte ich ihn und erzählte ihm. was ich empfunden hatte. »Du wirst keine hilfreichen Freunde unter den anorganischen Wesen finden, sondern Beziehungen von quälender Abhängigkeit«, stellte er fest. »Sei also äußerst vorsichtig. Wässrige anorganische Wesen neigen eher zu Exzessen. Die alten Zauberer glaubten, sie wären liebevoller, eher zur Nachahmung begabt, vielleicht sogar fähig zu Gefühlen: im Gegensatz zu den

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