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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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lauschte oder mich durch die Tunnel bewegte. Ich ging oder schwebte durch sie hindurch, ohne etwas zu fühlen, und war mir doch bewußt, daß Raum und Zeit konstant waren, wenn auch nicht in einem unter normalen Umständen rational feststellbaren Sinn. Aber wenn ich Unterschiede zwischen diesen Tunneln bemerkte, ein Fehlen oder ein Übermaß an Details, oder wenn ich die Distanz zwischen den Tunneln empfand oder die scheinbare Länge oder Breite eines jeden Tunnels vermerkte, durch den ich mich bewegte, so hatte ich doch ein Gefühl objektiver Beobachtung. Die nachhaltigste Folge dieser Umstrukturierung meines Interpretationssystems war für mich die Erkenntnis, in welcher Beziehung ich zur Welt der anorganischen Wesen stand. In dieser Welt, die für mich Realität hatte, war ich ein Tropfen Energie. So konnte ich durch die Tunnel flitzen wie ein rasch bewegtes Licht, oder ich konnte wie ein Insekt über ihre Wände kriechen. Wenn ich flog, gab eine Stimme mir nicht willkürliche, sondern zusammenhängende Informationen über Details an den Wänden, auf die ich meine Traum-Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Diese Details waren komplizierte Protuberanzen, ähnlich wie die Zeichen der Braille-Schrift. Wenn ich über die Wände kroch, sah ich dieselben Details viel genauer und hörte, wie die Stimme mir komplexere Erläuterungen gab.
    Die unvermeidliche Folge war. daß sich bei mir eine doppelte Haltung entwickelte. Einerseits wußte ich. daß ich einen Traum träumte. Andererseits wußte ich. daß ich eine praktische Reise unternahm, ebenso real wie jede Reise in dieser Welt. Diese unwillkürliche Spaltung bestätigte mir, was Don Juan gesagt hatte: daß die Existenz anorganischer Wesen der schwerste Angriff auf unsere Rationalität ist.
    Erst nachdem ich wirklich mein Urteil hintanstellen konnte, fand ich Erleichterung. Zu einer Zeit, als die Spannungen meiner unhaltbaren Lage - meine ernsthafte Überzeugung von der nachprüfbaren Existenz anorganischer Wesen, während ich ebenso ernsthaft glaubte, es sei nur ein Traum - mich zu vernichten drohten, trat eine drastische Änderung meiner Haltung ein, ohne daß ich sie von mir aus gewünscht hätte.
    Don Juan behauptete, daß mein Energiepegel, der stetig gestiegen sei, eines Tages eine Schwelle erreicht habe, was mir erlaubte, alle Annahmen und Vorurteile über das Wesen von Mensch, Realität und Wahrnehmung aufzugeben. An diesem Tag habe ich mich in das Wissen verliebt, ganz unabhängig von dessen Logik oder praktischem Nutzen - und vor allem ohne Rücksicht auf meine persönliche Annehmlichkeit.
    Als meine objektive Untersuchung über die anorganischen Wesen mir schon nichts mehr bedeutete, brachte Don Juan von sich aus die Sprache auf meine Traumreisen in diese Welt. Er sagte: »Ich glaube, du bist dir gar nicht bewußt, daß du regelmäßige Begegnungen mit anorganischen Wesen hast.«
    Er hatte recht. Ich hatte nie darüber nachgedacht. Ich war selbst verwundert über mein Versehen. »Es ist kein Versehen«, sagte er. »Geheimniskrämerei liegt im
    Wesen dieser Sphäre. Die anorganischen Wesen hüllen sich in Geheimnis und Dunkelheit. Denk nur an ihre Welt: statisch und geeignet, uns anzuziehen wie Licht oder Feuer die Motten. Aber da ist noch etwas, was der Botschafter dir bislang nicht zu sagen wagte: daß die anorganischen Wesen es auf unser Bewußtsein abgesehen haben, auf das Bewusstsein jedes Lebewesens, das ihnen ins Netz geht, Sie schenken uns Wissen, aber sie fordern eine Zahlung: unser ganzes Sein.«
    »Meinst du, Don Juan, die anorganischen Wesen sind wie Fischer?«
    »Genau. Irgendwann wird der Botschafter dir Menschen zeigen, die sich dort verfangen haben, und andere, nicht-menschliche Wesen, die ebenfalls dort gefangen sind.« Eigentlich hätte ich mit Furcht oder Abscheu reagieren sollen. Don Juans Enthüllungen hatten große Wirkung auf mich, aber nur im Sinn einer unbeherrschbaren Neugier. Beinah hechelte ich vor Erwartung.
    »Die anorganischen Wesen können niemanden zwingen, bei ihnen zu bleiben«, fuhr Don Juan fort. »In ihrer Welt zu leben, ist freiwillig. Wohl aber können sie jeden von uns gefangen nehmen, indem sie unsere Wünsche erfüllen, uns verwöhnen und uns gefällig sind. Hüte dich vor einem Bewusstsein, das unbeweglich ist. Ein solches Bewusstsein sucht zwangsläufig nach Bewegung, und dies tut es, wie ich dir sagte, indem es Projektionen erzeugt, manchmal phantasmagorische Projektionen.« Ich bat Don Juan, mir zu erklären, was er

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