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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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daß ich sie aus bewußtem Willen abgebrochen hätte. Vielmehr hatte ich unbewusst so viel Bedeutung in diesen einen Traum gelegt, daß ich einfach wußte, ich könne unmöglich weitermachen mit dem Träumen, wenn ich nicht zu Don Juan fahren konnte.
    Nach einer Unterbrechung, die mehr als ein halbes Jahr dauerte, wurde ich immer verwirrter durch das, was mir passiert war. Ich hatte nicht gewusst, daß meine Gefühle ausreichen würden, um meine Übungen abzubrechen. Und nun fragte ich mich, ob der Wunsch allein genügen würde, sie wiederaufzunehmen. So war es! Kaum hatte ich den Gedanken formuliert, das Träumen wiederaufzunehmen, gingen meine Übungen weiter, als wären sie nie unterbrochen worden. Der Scout machte dort weiter, wo wir aufgehört hatten, und führte mich direkt in die Vision zurück, die ich bei meiner letzten Sitzung gehabt hatte.
    »Dies ist die Welt der Schatten«, sagte die Stimme des Botschafters, als ich dort angekommen war. »Aber auch wenn wir Schatten sind, geben wir Licht ab. Nicht nur sind wir mobil, sondern wir sind auch das Licht in den Tunneln. Wir sind eine andere Art von anorganischen Wesen, die es hier gibt. Es gibt drei Arten: die eine ist wie ein unbeweglicher Tunnel, die andere ist wie ein beweglicher Schatten. Wir sind die beweglichen Schatten. Die Tunnel geben uns ihre Energie, und wir folgen ihren Befehlen.« Der Botschafter machte eine Pause. Mir schien, er wolle mich herausfordern, ihn nach der dritten Art anorganischer Wesen zu fragen. Und wenn ich ihn nicht fragte, so glaubte ich, würde der Botschafter es mir nicht sagen.
    »Welches ist die dritte Art anorganischer Wesen?« sagte ich. Der Botschafter hüstelte und kicherte. Ich hatte den Eindruck, als genieße er es, gefragt zu werden.
    »Oh, das ist unsere geheimnisvollste Eigenschaft«, sagte er. »Die dritte Art wird unseren Besuchern nur gezeigt, wenn sie sich entscheiden, bei uns zu bleiben.«
    »Warum ist das so?« fragte ich.
    »Weil es viel Energie braucht, sie zu sehen«, antwortete der Botschafter. »Und diese Energie müßten wir liefern.«
    Ich wußte, daß der Botschafter die Wahrheit sprach. Ich wußte auch, daß da eine furchtbare Gefahr lauerte. Und doch fühlte ich mich von grenzenloser Neugier getrieben. Ich wollte diese dritte Art sehen.
    Der Botschafter schien zu wissen, was ich empfand. »Möchtest du sie sehen?« fragte er gleichgültig. »Aber sicher«, sagte ich.
    »Dann brauchst du nur laut zu sagen, daß du bei uns bleiben willst«, sagte der Botschafter in nonchalantem Ton. »Doch wenn ich es sage, muß ich bleiben, nicht wahr?« fragte ich. »Natürlich«, sagte der Botschafter, im Ton endgültiger Überzeugung. »Alles, was du in dieser Weit laut aussprichst, gilt für immer.« Unwillkürlich dachte ich daran, daß der Botschafter, hätte er mich zum Bleiben überlisten wollen, mich nur anzulügen brauchte. Ich hätte den Unterschied nicht gemerkt. »Ich kann dich nicht anlügen, weil eine Lüge nicht existiert«, sagte der Botschafter, in meine Überlegungen eindringend. »Ich kann nur darüber etwas sagen, was existiert. In meiner Welt existiert nur die Absicht; eine Lüge enthält keine Absicht. Darum existiert sie nicht.«
    Ich wollte schon einwenden, daß es auch hinter Lügen eine Absicht geben könne, aber bevor ich dies äußern konnte, sagte der Botschafter, daß Lügen wohl einen Vorsatz enthalten könnten; ein Vorsatz sei aber noch keine Absicht.
    Es gelang mir nicht, meine Traum-Aufmerksamkeit auf die Debatte zu konzentrieren, die der Botschafter da anschnitt. Sie richtete sich vielmehr auf die Schattenwesen. Plötzlich fiel mir auf, daß sie aussahen wie eine Herde seltsamer, kindlicher Tiere. Die Stimme des Botschafters ermahnte mich, meine Emotionen zu kontrollieren; plötzliche Gefühlsausbrüche seien geeignet, die Wesen aufflattern zu lassen wie einen Vogelschwarm. »Was soll ich jetzt tun?« fragte ich.
    »Komm herunter zu uns und versuche, uns zu schieben oder zu ziehen«, drängte die Stimme des Botschafters. »Je früher du dies lernst, desto schneller wird es dir gelingen, in deiner Welt Dinge vom Fleck zu bewegen, indem du sie nur anschaust.« Meine Krämerseele zitterte vor Erwartung. Im nächsten Moment war ich bei ihnen und versuchte verzweifelt, sie zu schieben oder zu ziehen. Nach einer Weile hatte ich meine Energie gründlich erschöpft. Inzwischen hatte ich den Eindruck, daß ich etwas Ähnliches zu tun versucht hatte, wie mit den Zähnen ein Haus hochzuheben.

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