Die Kunst des Träumens
vertreiben brauchen - und das heißt den Montagepunkt zu verschieben, indem wir dessen Verschiebung einfach beabsichtigen.
Ich hatte eigentlich nie verstanden, was Don Juan damit meinte - bis zu dem Augenblick, da ich meinen Montagepunkt in eine andere Position bringen musste, um den Nebel dieser Welt zu vertreiben, der mich zu verschlucken drohte. Ohne weitere Worte traten Carol und ich nun zum Fenster und schauten hinaus. Wir waren auf dem flachen Land. Das Mondlicht zeigte die dunklen, geduckten Umrisse einiger Wohngebäude. Allem Anschein nach waren wir in der Geräte- oder Vorratskammer einer Farm oder eines großen Landhauses.
»Kannst du dich daran erinnern, daß du hier zu Bett gegangen bist?« fragte Carol.
»Beinah«, sagte ich, und meinte es tatsächlich. Ich erzählte ihr, daß ich nur noch mit Mühe das Bild ihres Hotelzimmers in Gedanken festhalten konnte - als Bezugspunkt, sozusagen. »Mir geht es genauso«, sagte sie, ängstlich flüsternd. »Ich weiß, wenn wir diese Erinnerung loslassen, sind wir erledigt.«
Dann fragte sie mich, ob ich glaubte, wir sollten diese Hütte verlassen und nach draußen gehen. Ich fand nicht, daß wir gehen sollten. Doch meine Ahnung war so bedrückend, daß ich kein Wort hervorbrachte. Ich konnte ihr nur mit dem Kopf ein Zeichen geben.
»Du hast ganz recht, daß du nicht hinaus willst«, sagte sie. »Ich habe das Gefühl, wenn wir diese Hütte verlassen, kommen wir nie mehr zurück.«
Ich wollte die Tür aufstoßen, nur um hinauszusehen, aber sie hielt mich zurück. »Tu's nicht«, sagte sie. »Du könntest hereinlassen, was da draußen ist.«
Jetzt kam mir der Gedanke in den Sinn, daß wir uns in einem zerbrechlichen Käfig befanden. Alles, zum Beispiel das Öffnen der Tür, konnte das prekäre Gleichgewicht dieses Käfigs stören. Im selben Augenblick, als ich dies dachte, hatten wir beide den gleichen Impuls: wir rissen uns die Kleider vom Leib, als gelte es unser Leben; dann sprangen wir auf das hohe Bett, ohne die Treppe aus Säcken zu benutzen - nur um sofort wieder hinunter zu springen.
Es war klar, daß Carol und ich gleichzeitig die gleiche Erkenntnis hatten. Und sie bestätigte meine Vermutung, als sie sagte: »Alles, was zu dieser Welt gehört, kann uns nur schwächen, wenn wir es benutzen. Solange ich hier nackt stehen bleibe, weit genug vom Bett und vom Fenster, kann ich mich noch erinnern, woher ich gekommen bin. Wenn ich mich aber ins Bett lege oder diese Kleider trage oder aus dem Fenster schaue, bin ich verloren.« Lange blieben wir in der Mitte des Zimmers stehen, eng aneinander geschmiegt. Ein unheimlicher Verdacht stieg in mir auf. »Wie werden wir in unsere Welt zurückkehren?« fragte ich - und hoffte, daß sie es wisse.
»Die Rückkehr in unsere Welt erfolgt automatisch, wenn wir nicht zulassen, daß dieser Nebel sich verbreitet«, sagte sie mit jener unerschütterlichen Überzeugung, die ihr Markenzeichen war.
Und sie hatte recht. Carol und ich erwachten gleichzeitig im Bett ihres Zimmers, im Hotel Regis. So offenkundig war unsere Rückkehr in die normale Alltagswelt, daß wir keine Fragen zu stellen brauchten und keine Bemerkungen darüber machten. Das Sonnenlicht war blendend hell.
»Wie sind wir zurückgekehrt?« fragte Carol. »Oder vielmehr, wann sind wir zurückgekehrt?«
Ich wußte nicht, was ich sagen oder denken sollte. Ich war zu betäubt, um Spekulationen anzustellen - und mehr hätte ich ohnehin nicht tun können.
»Glaubst du, wir sind eben erst zurückgekehrt?« wollte Carol wissen. »Oder - vielleicht haben wir die ganze Nacht hier geschlafen. Sieh nur! Wir sind nackt. Wann haben wir uns denn ausgezogen?«
»Wir haben in jener anderen Welt unsere Kleider ausgezogen«, sagte ich, selbst überrascht vom Klang meiner Stimme. Meine Antwort schien Carol zu verblüffen Sie sah mich verständnislos an, dann ihren nackten Körper.
So blieben wir eine Ewigkeit sitzen, ohne uns zu bewegen. Beide schienen wir aller Willenskraft beraubt. Dann, ganz plötzlich, hatten wir genau im selben Augenblick den gleichen Gedanken. In Rekordzeit streiften wir unsere Kleider über, rannten aus dem Zimmer, stürmten die Treppe hinunter, liefen über die Straße und stürzten in Don Juans Hotel.
Völlig außer Atem - unerklärlicherweise, denn wir hatten uns körperlich gar nicht angestrengt - erklärten wir ihm abwechselnd, was wir getan hatten.
Er bestätigte unsere Vermutungen. »Was ihr beide getan habt, war das Gefährlichste, was man
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