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Die Kunst des Träumens

Die Kunst des Träumens

Titel: Die Kunst des Träumens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Als ich mich nun auf die Bettkante setzte, merkte ich, daß es fast einen Meter bis zum Boden war.
    Plötzlich richtete Carol sich auf und sagte, mit deutlichem Lispeln: »Das ist widerlich! Der Nagual hat mir gewiß nicht gesagt, daß es so enden würde.«
    »Ich hab's auch nicht gewußt«, sagte ich. Ich wollte noch mehr sagen, wollte ein Gespräch anfangen, aber meine Angst hatte sich inzwischen unglaublich gesteigert.
    »Halt den Mund«, schrie sie mich an, ihre Stimme krächzend vor Wut.
    »Du existierst gar nicht. Du bist ein Geist. Verschwinde! Verschwinde!«
    Ihr Lispeln war wirklich süß, und es lenkte mich ab von meiner panischen Furcht. Ich rüttelte sie an den Schultern. Sie schrie auf - nicht aus Schmerz, sondern aus Wut oder Überraschung. »Ich bin kein Geist«, sagte ich.
    »Wir sind zusammen auf die Reise gegangen, weil wir unsere Energien vereinigt haben.«
    Carol war bei uns berühmt für die Schnelligkeit, mit der sie sich auf jede Situation einstellen konnte. Im Handumdrehen war sie überzeugt von der Realität unserer misslichen Lage, und nun begann sie im Halbdunkel nach unseren Kleidern zu suchen. Ich wunderte mich darüber, daß sie keine Angst hatte. Sie zappelte umher und rätselte laut, wohin sie ihre Kleider wohl getan hätte, wäre sie in diesem Zimmer zu Bett gegangen.
    »Siehst du vielleicht einen Stuhl?« fragte sie. Verschwommen sah ich einen Stapel von drei Säcken, die als Tisch oder hohe Bank gedient haben mochten. Carol sprang aus dem Bett und ging hin und fand ihre Kleider, und meine: ordentlich zusammengefaltet, wie es ihre Art war. Sie gab mir meine Sachen. Es waren zwar meine Kleider, aber nicht dieselben, die ich vor kurzem in Carols Zimmer, im Hotel Regis. getragen hatte.
    »Das sind nicht meine Kleider«, lispelte sie. »Und doch sind es meine. Wie seltsam.«
    Schweigend zogen wir uns an. Ich wollte ihr sagen, daß ich beinah platzte vor Angst. Auch wollte ich etwas über das Tempo unserer Reise sagen, aber nach der kurzen Zeit, die ich zum Anziehen brauchte, war der Gedanke an unsere Reise nur noch sehr verschwommen. Ich konnte mich kaum noch erinnern, wo wir vor dem Erwachen in diesem Zimmer gewesen waren. Mir war. als hätte ich das Hotelzimmer nur geträumt. Ich machte jede Anstrengung, mich zu erinnern, diese Verschwommenheit abzuschütteln, die mich einzuhüllen begann. Es gelang mir. den Nebel zu vertreiben, doch dies erschöpfte all meine Energie. Keuchend und schwitzend saß ich schließlich da.
    »Irgend etwas hat mich beinah - beinah - geschafft«, sagte Carol. Ich schaute sie an. Sie war. wie ich. schweißgebadet.
    »Dich aber beinah auch. Was. glaubst du. ist das?«
    »Die Position des Montagepunktes«, sagte ich mit absoluter Gewißheit.
    Sie war anderer Meinung. »Die anorganischen Wesen sind es. die ihren Tribut fordern«, sagte sie fröstelnd. »Der Nagual hat mir gesagt, es würde schrecklich sein - aber nie hätte ich mir so etwas Schreckliches vorgestellt.«
    Ich konnte ihr nur zustimmen. Wir waren in einer schrecklichen Zwangslage - und dennoch konnte ich nicht erfassen, was eigentlich das Schreckliche unserer Situation war. Carol und ich waren ja keine Novizen. Wir hatten so vieles getan und gesehen - und manches davon wirklich beängstigend. In diesem geträumten Raum aber gab es etwas, das mich in unvorstellbare Angst versetzte. »Wir träumen doch, nicht wahr?« fragte Carol. Ohne Zögern versicherte ich ihr. daß wir tatsächlich träumten: obwohl ich alles darum gegeben hätte, wäre Don Juan hier gewesen, um mir dasselbe zu bestätigen.
    »Warum hab ich solche Angst?« fragte sie mich, als wüßte ich eine rationale Erklärung.
    Bevor ich etwas dazu sagen konnte, fand sie selbst eine Antwort auf ihre Frage. Was ihr solche Angst mache, sagte sie. sei die Erkenntnis - und zwar die körperliche Erkenntnis -, daß die Wahrnehmung eine allumfassende und absolute wird, sobald der Montagepunkt reglos in seiner Position verharrt. Carol erinnerte mich daran, wie Don Juan uns einmal erklärte, daß unsere Alltagswelt nur deshalb solche Macht über uns habe, weil unser Montagepunkt reglos in seiner gewohnten Position bleibe. Diese Starre des Montagepunktes bewirke eine so allumfassende und überwältigende Wahrnehmung, daß wir uns ihr nicht entziehen könnten. Und noch etwas fiel Carol ein, was der Nagual gesagt hatte: daß wir, um diese totale und allbeherrschende Kraft zu fiberwinden, nur den Nebel zu vertreiben brauchen - und das heißt den

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