Die Kunst engagierter Gelassenheit
wir die existierende Differenz und Verschiedenheit, Vielfalt und
Komplexität des Lebens und der Welt in unsere Aktionen integrieren. Menschen, für die alles klar und eindeutig, weiß oder schwarz, gut oder böse ist und sein muss und die immer alles im Griff haben und für alles klare Konzepte erstellen wollen, können engagierte Gelassenheit nie erfahren. Engagierte Gelassenheit ist fokussierte Hingabe bei gleichzeitiger Offenheit. Ein gut befreundeter Maler geht auf Grund seiner spirituellen Praxis immer mehr mit einer inneren Haltung an seine Werke und weiß am Anfang meistens nicht, was im Prozess des Malens entstehen wird. Mit innerem Feuer und voller Präsenz lässt er sich führen. Der Akt des Malens wandelt sich bei ihm immer mehr vom Machen zum Geschehen-Lassen und Empfangen. Gelassenes Engagement besitzt ein klares Anliegen, eine hohe Bereitschaft zur Hingabe, ist angetrieben von einem starken Feuer und strebt nach einem bestimmten Ziel. Und gleichzeitig verzichtet das gelassene Engagement auf einen starren Zeitrahmen, eine allzu enge Form und einen einzigen möglichen Weg, um die angestrebte Veränderung zu bewirken.
Wir können und müssen nicht immer alles verstehen. Und auch nicht sofort. Engagierte Gelassenheit bedeutet, mit den Widersprüchen und offenen Fragen, dem Paradoxen und Geheimnisvollen in uns, in der Welt und bezüglich der transzendenten Wirklichkeit konstruktiv umzugehen. Oder wie Rilke es formulierte: die Fragen leben und in die Antworten hinein wachsen.
Engagierte Gelassenheit im Sinn eines klaren Ziels und Auftrags bei gleichzeitiger Offenheit bezüglich der Wege und Mittel können wir nicht zuletzt vom Schöpfer allen Lebens
lernen. Einerseits hat er gemäß der Bibel die Welt und den Menschen mit Herzblut und Leidenschaft geschaffen und dieses Werk auch mit einem klaren Ziel und Auftrag verbunden: Der Mensch soll darin das Leben schützen und fördern, Verantwortung tragen sowie dem Frieden und der Gerechtigkeit dienen. Gleichzeitig hat der Kreator dem Menschen völlige Freiheit geschenkt, ob und wie er dieses Ziel erreichen will. Dass diese Entlassung in die Freiheit einen sehr hohen Preis hatte und im Lauf der Geschichte unendlich häufig missbraucht wurde, wissen wir zur Genüge. Trotzdem ist es genau diese Haltung, die Eltern, Pädagogen und letztlich alle Menschen entwickeln müssen, wenn sie Verantwortung für andere tragen wollen und müssen und dabei nicht vor Sorgen gelähmt werden wollen. Das Wirken mit engagierter Gelassenheit schenkt anderen ein Maximum an Vertrauen und Freiheit.
Sinnvolle Nähe und nötige Distanz
Das müssen wir auch lernen, liebe Schwester,
andere ihr Kreuz tragen zu sehen
und es ihnen nicht abnehmen zu können.
Es ist schwerer als das eigene zu tragen,
aber wir kommen auch daran nicht vorbei.
Sr. Edith Stein (Philosophin, KZ-Opfer, 1891 – 1942)
Das alles betrifft mich
und betrifft mich doch nicht.
Etty Hillesum (KZ-Opfer, Tagebuch-Autorin, 1914 – 1943)
Ein Engagement kann absolut entgleisen und pervertiert werden, wenn es zur Distanzierung unfähig wird und dem Fundamentalismus oder Dogmatismus, Fanatismus oder Totalitarismus verfällt. Die innere Haltung der Gelassenheit muss sich mit dem Engagement so verbinden, dass wir in unserem Engagement stets fähig bleiben zur Distanz gegenüber uns selbst, unseren Denkmustern sowie gegenüber den möglichen Wegen und Mitteln, mit denen wir unsere Ziele erreichen wollen.
Echtes Engagement zeigt sich einerseits in der Fähigkeit zur Compassion , zum tiefen Mitgefühl und Mitleiden mit anderen Menschen und der Umwelt. Andererseits wissen wir heute nur allzu gut um die Gefahr, fremdes Leiden zum eigenen werden zu lassen. Darum ist es in manchen Situationen sinnvoller, von »Leiden mittragen« als von »mitleiden« zu sprechen. Die Spannung und das rechte Maß zwischen leidenschaftlicher Empathie und gelassenem Bei-sich-Bleiben fordern uns auf der partnerschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen sowie religiösen Ebene permanent heraus.
Die Spannung zwischen Nähe und Distanz, Empathie und Bei-sich-Bleiben erleben nicht alle Menschen gleich und entwickeln deshalb auch unterschiedliche Strategien, um in ihrer engagierter Gelassenheit mit diesem Dilemma möglichst konstruktiv umzugehen:
»Ich erlebe es als schwierig, mich mit engagierter Gelassenheit auf jemanden oder etwas einzulassen. Dabei ist mir der Leitspruch ›Es kommt auf mich an, hängt aber nicht allein von mir ab‹ hilfreich,
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