Die Kunst engagierter Gelassenheit
Bestimmung und eigentliche Aufgabe im Leben ist. Bei manchen stellen sich diese Fragen nach einem sinnvollen Wirken in der Welt erst anlässlich der bevorstehenden Pensionierung, wenn sie endlich einmal über genügend Ressourcen an Zeit und Geld verfügen und tun dürfen oder müssen, wofür sie eine tiefe Lust und Sehnsucht spüren.
Wie, auf welchen Wegen und mit welchen Hilfen und Methoden können wir unser inneres Feuer entdecken? Meistens gebe ich den Suchenden in Beratungen und Kursen die gleiche Hausaufgabe: bei der Zeitungslektüre, beim Schauen und Hören von Nachrichten oder auch in Diskussionen mit Freunden darauf zu achten, welche Themen in ihnen starke Emotionen oder gar körperliche Reaktionen auslösen. Ganz egal, ob die Themen sie zum Gähnen oder auf die Palme bringen, Wut oder Spannung, Ekel oder Rebellion, Anziehung oder Faszination auslösen. Wo in uns starke Impulse auf der einen oder anderen Seite spürbar werden und wo Feuer in uns auflodert, haben die Themen etwas mit uns, mit unserer Bestimmung, Berufung oder Lebensaufgabe zu tun. Es muss auch nicht zwingend die Zeitung oder das TV-Gerät sein, das uns Anhaltspunkte liefert für das, was wir tief in unserem Inneren wirklich wollen oder zu tun haben. Das Leben ist voll von Zeichen und Hinweisen. Es gilt lediglich, unsere Sinne und unser Herz dafür zu öffnen und den Mut zu haben, dem inneren Brennen zu folgen.
Feuerwache und Zündschnurpflege
Wer als Pfadfinder das Feuerentfachen lernt, muss zuerst einen geeigneten Ort und trockenes Holz in verschiedenen Größen besorgen, Steine um die Feuerstelle legen, etwas Papier unter den Scheiterhaufen legen und dieses mit einem Streichholz entzünden. Später muss er das Feuer beobachten, manchmal Holz nachlegen und durch kräftiges Pusten Frischluft zuführen. Im übertragenen Sinn braucht auch unser inneres Feuer permanente Pflege und Nahrung, wenn es weder modern
noch sich verzehren soll, sondern wie der biblische Dornbusch oder das »ewige Licht« in katholischen Kirchen beständig brennen soll. Unser inneres Feuer, unsere Begeisterung braucht Nahrung wie unser Körper und Geist, die wir weder hungern lassen noch vollstopfen. Die innere Feuerwache ist eine tägliche Aufgabe.
Eine tägliche Feuerpflege besteht darin, dass wir abends beim Tagesrückblick unserem inneren Feuer nachspüren. Hilfreich ist auch eine regelmäßige externe Feuerwache respektive eine spirituelle Begleitung oder ein Coaching.
Der sicherste und nachhaltigste Weg zur Erhaltung des inneren Feuers, das wir für ein gelassenes Engagement sowie zur Prävention gegen ein Ausbrennen benötigen, ist unsere innere Verbundenheit zum Feuer, das in der Welt an unzähligen Orten und in zahllosen Herzen brennt. Entscheidend ist, dass wir unser eigenes Feuer nicht isoliert sehen und nähren, hegen und pflegen. Es ist unsere tiefe innere Verbundenheit mit der Welt, mit den anderen Lebewesen und allem Leben, die uns als permanente Zündschnur und beständig glimmender Docht dient. Wenn wir mit der Welt verbunden sind, erhalten wir unerschöpfliche Ressourcen für unser Engagement und laufen nicht Gefahr, dass unser Feuer erlischt und wir einen Burnout erleiden. Die spirituelle Erfahrung, dass wir Teil der Welt sind, schenkt uns immer wieder neu die nötige Energie, den langen Atem, die Zuversicht und die Hoffnung für ein nachhaltiges, mutiges und zugleich gelassenes Wirken.
Inneres Feuer nimmt im Verlauf unseres Lebens nicht zwingend in einer Weise ab, wie es der 71-jährige Vater eines Schulfreundes formuliert: »Im Alter brennt das Feuer seltener im
Herzen, dafür öfters im Kamin.« In Zürich lebt meine tief verehrte Freundin Silvana, die 92 Jahre jung ist. Ich sage nicht darum »jung«, weil sie sich kleidet oder spricht wie eine Teenagerin, sondern weil sie Liebesgedichte und Theaterdramen schreibt, fremde Menschen auf der Straße ungeniert anspricht, im Meer schnorchelt, Ökologieprojekte lanciert, Zen-Meditation übt, neue mikrobiologische und astrophysische Theorien studiert, über Autorenfilme debattiert und sich noch immer verlieben kann wie eine Studentin im ersten Semester. Ihr Geist ist eine unerschöpfliche Feuerstelle. Dass ihr Feuer trotz physischer Handicaps permanent brennt, ist zweifellos die Folge einer unendlichen Liebe zu den Menschen, zum Leben und zur Welt sowie eine Gelassenheit, die durch den Tod von zwei Ehemännern und das Überleben von zwei Weltkriegen zutiefst geläutert wurde. Und schließlich brennt
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