Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
groß sein mögen, dauerhaft anhaltend sind sie nicht. Wie viele miese Erkenntnisse können mir den Tag verhageln?
Und ist ein raffiniert aufgelöstes Integral tatsächlich langfristig erfüllender als eine tolle Liebesnacht?
Besonders kritisch aber ist der folgende Einwand: Selbst wenn es stimmen sollte, dass nichts so sehr erfüllt wie Wissen und Erkenntnis - muss man dann nicht sagen, dass Lernen und Erkennen »lustvoll« sind? Dass also Lust und Erkenntnis schon deshalb zusammengehören, weil anders gar nicht erklärt werden könnte, wieso ein lernendes und nach Wahrheit strebendes Leben überhaupt glücklich machen soll? Ganz ohne Lust geht es also wohl doch nicht. Platon ist ein so schlauer Fuchs, dass er auch über diesen Einwand selbst nachgrübelt. Natürlich, so folgert er, braucht der Mensch zum Glück einen Lustgewinn - es fragt sich nur: von welcher Qualität?
Nach Platon ist die Lust nicht das Kriterium, sondern eher so etwas wie eine spätere Belohnung. Doch damit beginnt sogleich wieder die Frage nach dem nun wirklich gültigen Kriterium. Und um diese Frage zu beantworten, kommt Platon zu seinem Hauptthema. Das Maß aller Dinge nämlich ist - das Gute! Was Platon von seinen Schülern fordert, ist das Bekenntnis zu einer klaren Hierarchie: Alles Tun und Wollen soll so geordnet sein, dass es dem Streben nach dem Guten unterworfen ist. Nur ein guter Mensch sei ein wahrhaft glücklicher Mensch. Und so bleibt eigentlich nur noch die schwierigste aller Fragen übrig: Was ist denn eigentlich »das Gute«?
Man kann es sich natürlich einfach machen und den umgekehrten Weg einschlagen und herausfinden, was das Schlechte ist - frei nach Wilhelm Busch: »Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt.« Aber hat Wilhelm Busch Recht?
Während ich dies schreibe, erschüttert der Fall eines couragierten Mannes die Republik, der an einer Münchner S-Bahn-Station zwei Schulkindern zu Hilfe kam und dafür von Schlägern zu Tode geprügelt wurde. Wer würde diesen beherzten Einsatz, diese mutige Zivilcourage, nicht »gut« nennen? Die Hände in
den Hosentaschen zu lassen und sich wegzustehlen wäre weniger gut gewesen. Unterlassene Hilfeleistung ist zwar »das Gute, das man lässt«, aber nach Buschs Kriterium wäre es nichts Schlechtes. Das Böse zu lassen reicht also nicht immer ganz aus.
Die berühmteste Passage über das Gute findet sich in Platons Hauptwerk Politeia, zu Deutsch: »Der Staat«. 4 Das Gute, so heißt es hier, ist etwas ganz Besonderes, die größte und tollste Sache der Welt. Etwas schwammig formuliert lässt sie sich leicht beschreiben: Das Gute ist viel mehr als die Lust und auch mehr als das Wissen. Aber wie drückt man das präzise aus?
Die Antwort ist: gar nicht! Statt eine positive Definition des Guten zu geben, lässt Platon seinen Sokrates ein Gleichnis erzählen, das wahrscheinlich berühmteste Bild der Philosophiegeschichte: 5 Schaut euch die herrliche Sonne an! Sie spendet Licht und Wärme zugleich. Allein die Sonne ermöglicht es uns, zu sehen und zu erkennen. Und zugleich lässt sie auf der Erde alles wachsen und gedeihen. Und ist es mit dem Guten nicht genauso? Es inspiriert und erhellt unser Denken und bringt uns näher an die Wahrheit. Und je mehr wir erkennen, umso mehr nehmen wir wahr. Unser scharfer Geist verleiht den Dingen um uns herum ihre Kontur und damit ihre Existenz. So wie die Sonne, über allen Dingen stehend, alles durchwirkt, so durchwirkt das Gute - ebenfalls über den Dingen stehend - unsere menschliche Existenz. Mit anderen Worten: So wie die Sonne das Leben schenkt, so verleiht das Gute unserem Dasein Wert und Sinn.
So weit Platons »Sonnengleichnis«, ein hübsches und sehr berühmtes Bild. Aber wieso eigentlich ein Bild? Warum greift ein messerscharfer und kühler Analytiker des Geistes wie Platon an einer solchen Schlüsselstelle seines Werkes auf ein Gleichnis zurück? Nüchtern betrachtet ist der Vergleich doch im Grunde nur eine Behauptung! Dass die Sonne dem Leben auf der Erde seine Existenz ermöglicht, daran besteht heute kein Zweifel. Aber was spricht dafür, dass es tatsächlich ein Gutes gibt mit sonnengleichen Eigenschaften? Wo ist der Beweis?
Und in der Tat: Auch die Gesprächspartner des Sokrates sind not amused. Das Bild befriedigt nicht wirklich. Und der große unfehlbare Guru sieht sich gezwungen, die genauere Beleuchtung des Guten freundlich zu vertagen: »Allein, ihr Herrlichen, was das Gute selbst ist, wollen wir
Weitere Kostenlose Bücher