Die Kunst, nicht abzustumpfen
das Emotionale – auch für Gefühle, die politisch bedeutsam sind. So heißt es z. B. in einem Text von 1940 von Ulrich Christoffel (1940, 111), dass »der Mensch, um ganz innerlich zu sein und die Kräfte des Innerlichen für sich fruchtbar zu machen, in sich selbst versinken müsse wie in ein Meer, und dass nur aus der äußerlichen Abwendung von den Dingen die innere Tiefe aufklingen könne. Halte dich abgeschieden von
allen Menschen, bleibe ungetrübt von allen aufgenommenen Eindrücken.«
Diese Tendenz zur »deutschen Innerlichkeit« wurde vielfach kritisiert; so etwa 1933 von Thomas Mann als Flucht des deutschen Bürgertums »von der Revolution zur Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten, machtgeschützten Innerlichkeit.« (zit. in: Innerlichkeit 2011). Tatsächlich war es hierzulande über Jahrhunderte lebensgefährlich, seine politischen Emotionen und Gedanken öffentlich zu zeigen. Heute jedoch ist es überlebensnotwendig geworden, diese Verhaltensweise, Relikt unserer Geschichte, zu verändern.
Denn unsere Emotionen über die Welt zu privatisieren, bedeutet, uns heillos zu überfordern. Kein Mensch kann alle Schmerzen über die Welt allein mit sich ausmachen, ohne auf Dauer daran seelisch kaputt zu gehen: Etwa durch eine pessimistische oder zynische Lebenshaltung, die häufig die Folge einer emotionalen Überforderung eines Menschen ist (Marcuse 1953, 188) – mit der Folge, dass das eigene Leben oder das der Mitmenschen vergiftet wird. Oder durch andere seelische oder psychosoziale Störungen, die gerade in den Industrienationen ständig zunehmen: So hat sich z. B. seit Mitte der 1990er-Jahre die Zahl der psychischen Erkrankungen verdoppelt (Dettmer/ Tietz 2011, 58). Am häufigsten sind Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Suchterkrankungen. Auch unter Kindern und Jugendlichen nehmen psychische Erkrankungen und Verhaltensprobleme immer mehr zu.
Daher betone ich: Die Sorgen, Ängste, Wut, Abscheu, Empörung, Ohnmacht, Trauer, Scham sowie das Mitgefühl und Entsetzen angesichts der Negativ-Meldungen über die Welt: Diese Emotionen sind nicht privat ! Sie haben ihre Ursache in einer gewalttätigen, ungerechten und ökologisch-gefährdeten Welt – und sie gehören genau dorthin zurück. Sie sind keine Privatangelegenheit, sondern sozial bedeutsam, weil nur aus ihnen die Kraft zur Veränderung erwachsen kann.
Eine falsche Privatisierung von gesellschaftlich bedeutsamen Emotionen wird auch dadurch gefördert, dass unsere Wissenssysteme so aufgebaut sind, als ob Psyche und Gesellschaft getrennte Sphären seien. Auch an den Universitäten sind die Fächer Psychologie und Soziologie, Politik, Geschichte voneinander getrennt. Diese Trennung hat etwa zur Folge, dass heute auf der einen Seite zwar Trauer über den Tod eines geliebten Menschen durchaus akzeptiert wird, aber auf der anderen Seite der Zustand der Welt als etwas betrachtet wird, was keinerlei emotionale Bedeutung habe.
So bemühen sich z. B. Nachrichten-Sprecher um ein korrektes, seriöses Auftreten. Dem langjährigen Sprecher der Tagesschau, Karl-Heinz Köpcke (»Mr. Tagesschau«) wird die Äußerung zugeschrieben, dass er selbstverständlich auch die Nachricht über den bevorstehenden Weltuntergang in ruhigem, nüchternem Ton ansagen würde. Auch in der historischen und politischen Bildung spielen Emotionen nur eine untergeordnete Rolle. Es wird in der Regel so getan, als seien Krieg, Hunger, Massen-Vergewaltigungen, Artensterben, Folter, Ausbeutung und millionenfache Morde sachliche Ereignisse, die als emotionslose Informationen vermittelt und gepaukt werden könnten. So wird schon durch den Geschichts- und Gemeinschaftskunde-Unterricht eine Abspaltung der gesellschaftlich bedeutsamen Gefühle erzeugt.
Was tun?
Der erste Schritt zur Hoffnung besteht darin, unseren Umgang mit den Nachrichten, die tagtäglich durch Fernsehen, Radio, Zeitung, Internet und andere Medien an uns herangetragen werden, zu verändern.
Die Menschheit verfügt heute über mehr Informationen als jemals zuvor in ihrer ganzen Geschichte. Reporter, TV-Kameras und Internet-Blogger sind live dabei, wenn Menschen
verhungern, ertrinken oder getötet werden. Aber mit diesen Informationen stimmt etwas nicht, so Dorothee Sölle (1993, 35): Dieser Art von Wahrheit fehlt »das, was Wahrheit nach dem Johannesevangelium mit uns tut: Sie macht nicht frei.« All dieses »in unserer Welt aufgehäufte ökonomische und ökologische Wissen
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