Die Kunst, nicht abzustumpfen
wir die Augen eines hungernden Kindes oder Bilder von toten Flüchtlingen sehen, die während ihres Fluchtversuchs in die »Festung Europa« ertrunken sind.
Scham und Schuldgefühle angesichts unserer Beteiligung an der Zerstörung von Mitmenschen und der Mit-Schöpfung: Als Nutznießer einer ungerechten Weltwirtschaft, welche die selbsternannte »Erste Welt« auf Kosten der sogenannten »Dritten« übervorteilt.
Solche Gefühle sind unvermeidbar. Sie sind natürliche Reaktionen auf eine Welt, die in einem katastrophalen Zustand ist. Diese »Schmerzen über die Welt«, wie Joanna Macy und Molly Brown (2003, 37) dies nennen, sind Alarmsignale. Sie signalisieren, dass es dringend notwendig ist, etwas zu verändern.
Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass wir, die Bewohner der wohlhabenden Länder der sogenannten »Ersten Welt«, mehr oder weniger darin eingeübt sind, diese Alarmsignale zu ignorieren und zu verdrängen. Mit der Folge, dass mehr und immer mehr Energie für deren Verdrängung aufgewendet wird: Energie, die uns dann fehlt, uns für Lösungen einzusetzen. So werden wir apathisch; dieses Wort stammt vom griechischen »a pathos«: ohne Pathos, ohne Leidenschaft, teilnahmslos.
Robert Lifton beschreibt unsere Reaktionen auf den Zustand der Welt als seelische Betäubung, die auf individueller wie auch kollektiver Ebene am Werk ist. Diese Betäubung geschieht
weniger durch Medikamente, denn »es gibt keine Pillen, Kapseln oder Tabletten gegen den Schmerz, den wir angesichts des Zustands unserer Welt empfinden.« (Macy / Brown 2003, 38). Sie geschieht vorwiegend dadurch, dass der Schmerz verleugnet oder verdrängt wird.
Dies bewirkt Entfremdung und Vereinzelung, mit der Konsequenz, dass wir eine Art Doppelleben führen. Macy und Brown (2003, 45) schreiben: »Oberflächlich leben wir unser normales Alltagsleben, doch darunter wächst das Gefühl drohenden Unheils«, das jedoch abgespalten wird. Indem wir unsere tiefsten Sorgen nicht anerkennen, schneiden wir uns von den inneren Quellen unserer Kreativität ab. Wir isolieren uns auch von den Mitmenschen, wenn wir unsere tiefsten Sorgen nicht mit ihnen teilen: unsere Beziehungen werden oberflächlich. Der Theologe Harvey Cox spricht von einem gesellschaftlichen Tabu, den Zustand der Welt laut hinauszuschreien. Solange die Menschen dieses Tabu akzeptieren, »distanzieren sie sich voneinander, so wie dies Familien und Freunde von Todkranken tun.« (zit. in Macy / Brown 2003, 46).
Häufig »merken« wir Erwachsene unsere Emotionen über die Welt gar nicht mehr, weil wir darin eingeübt sind, sie zu übergehen. Viele Menschen in armen Ländern können dies jedoch nicht. So sagte einmal die nicaraguanische Schriftstellerin Gioconda Belli angesichts der verbreiteten Hoffnungslosigkeit, die ihr in Deutschland begegnete, dass sich diese Art von Luxus in ihrem Land niemand leisten könne (Sölle 1993, 34).
Anstatt zu »merken«, verharren hierzulande viele Menschen in einer optimistischen Haltung des Nicht-Wahrhaben-Wollens: »Es wird schon nicht passieren.« Stattdessen konzentrieren sie ihre Kräfte auf die Bewahrung eines privaten Glücks – unter Ausblendung der globalen Katastrophen. Tatsächlich ist Optimismus überproportional vertreten unter Erfindern, Politikern und Unternehmern; der Psychologe Daniel Kahnemann nennt ihn den »Motor des Kapitalismus« (zit. in Dworschak 2012, 118). Diese Trennung zwischen privat und global
erklärt die Ergebnisse einer Befragung durch die Universität Hohenheim von Ende 2011: Demnach sehen 63 Prozent der befragten Bundesbürger ihrer persönlichen Situation im kommenden Jahr zuversichtlich entgegen, während dies nur 28 Prozent in Bezug auf die Gesamtsituation in Deutschland tun (Dworschak 2012).
Viele Menschen »merken« die Angst oder den Zorn angesichts der globalen Katastrophen, bleiben aber sozusagen darin stecken und werden zynisch oder pessimistisch. Beide Haltungen, Optimismus wie Pessimismus, gehören zur Überfluss-Ökonomie und werden durch Werbung und Medien gefördert. Sie baut auf das Bedürfnis von Menschen, schmerzhafte Emotionen durch Konsum »wegzumachen«. Kino, Aktiv-Urlaub, Shopping und vieles mehr verspricht – zumindest auf den ersten Blick – mehr Spaß als die Auseinandersetzung mit bedrohlichen Nachrichten. Damit wird allerdings die »Immer-mehr«-Mentalität der Überfluss-Ökonomie, die ja der globalen Krise gerade zugrunde liegt, immer noch mehr angeheizt – ein fataler
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