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Die Kunst, nicht abzustumpfen

Die Kunst, nicht abzustumpfen

Titel: Die Kunst, nicht abzustumpfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Marks
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riecht nach Tod.« (Sölle 2009, 251)
    Die Informationsgesellschaft basiert auf dem Versprechen: »Je mehr Information, desto größer die Vorhersehbarkeit. Glück ist so eine Frage der Planung und des Know-how.« (Haimerl 2006). Diese Formel stimmt heute nicht mehr. Neil Postman (1992, 62) konstatiert: »Wir informieren uns zu Tode.« Die Zeiten, da Informationen den Menschen dabei halfen, ihre dringenden Probleme zu lösen, sind längst vorbei. Wir werden von Informationen geradezu überschwemmt und wissen nicht mehr, was wir mit ihnen tun sollen; »die Verbindung zwischen Information und Handeln ist gekappt.« Zwar glauben die meisten Menschen immer noch, dass mehr Informationen zur Lösung von Problemen beitragen könnten. Dabei beruhen die ernsten Probleme der Menschheit gewiss nicht auf Informationsmangel: Wenn es z. B. »zu einer Nuklearkatastrophe kommt, dann nicht wegen unzulänglicher Informationen.«
    Die Informationsschwemme verstärkt das Gefühl von Ohnmacht und führt zu einem gesteigerten Interesse an der eigenen Person; sie lenkt unsere Aufmerksamkeit ab und verzehrt die Kräfte, die wir für eine gelingende Zukunft einsetzen könnten (Postman 1992, 62).
    Al Gore (1992) macht in seinem Buch Wege zum Gleichgewicht die wichtige Unterscheidung zwischen Information, Wissen und Weisheit: »Wenn wir etwas nicht wissen, machen wir uns sofort daran, mehr und mehr Informationen zu erzeugen, ohne anscheinend zu bemerken, dass sie zwar wertvoll sein mögen, aber kein Ersatz für Wissen sind – geschweige denn für Weisheit. Durch die Erzeugung von Daten in viel größeren Mengen als jemals zuvor haben wir angefangen, störend in den Prozess einzugreifen, durch den Information schließlich
zu Wissen wird. Lässt man diesem Prozess freien Lauf, dann ähnelt er der Gärung: Information wird zuerst zu Wissen fermentiert, welches dann – manchmal – zu Weisheit destilliert.« (Gore 1992, 201)
    Unser Zeitalter bezeichnet sich stolz als »Informationsgesellschaft«; tatsächlich sind die Fortschritte der Nachrichtentechnologie erstaunlich. Dringend notwendig wäre es jedoch, auch Wissens- und Weisheits-Gesellschaft zu sein – gerade angesichts der ungeheuren technischen Mittel zur Zerstörung, über die die Menschheit heute verfügt. Fatalerweise scheinen wir uns jedoch immer mehr von Wissen und Weisheit zu entfernen. Denn heute, so schreibt Al Gore weiter, »wird jeden Tag so viel mehr an Informationen gesammelt, dass der langsame Prozess, durch den sie in Wissen umgewandelt werden, von einer Lawine neuer Daten zugeschüttet wird.« (Gore 1992, 201)
    Wissen und Weisheit wird zunehmend auch schon in Schulen und Hochschulen verhindert. Immer mehr »Stoff« wird in die Unterrichtsstunden gepresst, mit der Folge, dass immer weniger Zeit für das Wesentliche bleibt: für die Verarbeitung der Informationen. Diese erfordert Wiederholungen, Pausen und Muße. Tatsächlich kommt das Wort Schule vom griechischen Wort für Muße und Innehalten (»schola«); davon ist die Wirklichkeit in vielen Klassenzimmern weit entfernt. Der Irrtum dieser Entwicklung ist in der falschen Annahme begründet, Lernprozesse könnten – wie eine Maschine – beliebig beschleunigt werden. Doch Lernen ist immer ein individueller Prozess, der seine je eigene Zeit benötigt. Von jemandem also zu verlangen, schneller zu lernen, ist so unsinnig, wie an einer Pflanze zu zerren, damit sie schneller wachse (Geißler 1992, 167).
    Diese Einsicht ist bedeutsam in Bezug auf die Verarbeitung der Nachrichten, die tagtäglich auf uns einströmen: Die Gärungszeit, die Information benötigt, ist zum Beispiel bei Nachrichtensendungen nicht gegeben, wenn im Takt weniger Sekunden oder Minuten von einem Kriegsschauplatz zur nächsten Katastrophenmeldung zur folgenden Nachricht usw.
gesprungen wird. Dies hat zur Folge, dass die Informationen bloße Informationen bleiben; ihre Verwandlung in Wissen und Weisheit kann nicht stattfinden.
    Meine These ist, dass es nicht primär darauf ankommt, quantitativ und kognitiv möglichst umfassend über die Weltprobleme informiert zu sein. Wesentlich ist vielmehr die Qualität unseres Umgehens mit diesen Informationen: Wesentlich ist der Prozess, den Al Gore mit einer Gärung vergleicht. Dies benötigt erstens Zeit und zweitens andere Formen der Vermittlung und Verarbeitung von Informationen.
    Zeit
    Der Gehirnforscher Dilip Jeste suchte nach den Gehirnarealen, die für Weisheit zuständig sind. Er hält den präfrontalen

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