Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
den Brief, den der Anwalt auf Bitten ihres Onkels geschrieben hatte. »Ich verstehe. Ich fürchte, wir haben im Augenblick kein Einzelzimmer frei, aber Sie werden so bald wie möglich eines bekommen. Bis dahin werden Sie ihr Zimmer teilen müssen.«
»Ich verstehe.«
»Ihr Name ist« – die Frau sah in den Brief – »Miss … Smith?«
»Ja, Smith. Charlotte Smith.«
Mrs Moorling zögerte nur einen ganz kurzen Augenblick, bevor sie mit völlig ausdrucksloser Miene weitersprach, doch Charlotte wurde den Eindruck nicht los, dass die Frau ihre Lüge durchschaut hatte. »Bevor ich Sie aufnehme, muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Charlotte schluckte schwer.
»Ist dies das erste Mal, dass Sie eine solche Einrichtung in Anspruch nehmen?«
»Ja, natürlich.«
»Das ist keineswegs ›natürlich‹, Miss Smith. Es gibt leider nur zu viele, die nicht aus ihren Erfahrungen lernen. Ich muss Ihnen mitteilen, dass das Manor House für ledige Mütter ausschließlich ein Ort für bedürftige ledige Frauen ist, die ihrer ersten Niederkunft entgegensehen. Unser Ziel ist es, unsere Patientinnen wieder zu einem moralisch untadeligen Lebenswandel zu befähigen.«
Charlotte blickte zu Boden und spürte, wie ihr die Röte der Verlegenheit ins Gesicht stieg und das Blut in ihren Ohren rauschte. Sie hörte das Rascheln von Papier und wusste, dass die Hausdame den Brief nochmals las.
»Der Brief bezeugt Ihren Charakter und Ihren gesellschaftlichen Hintergrund, allerdings habe ich im Moment nicht die Zeit, das nachzuprüfen.«
»Mrs Moorling, ich versichere Ihnen, ich war noch nie in einer solchen Notlage … ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich überhaupt je in eine solche Situation geraten könnte.«
Was für eine Wortwahl , dachte Charlotte grimmig.
Sie zwang sich, der älteren Frau in die Augen zu sehen. Mrs Moorling schaute sie einen Moment lang direkt an, dann nickte sie.
»Gibbs wird Ihnen Ihr Schlafzimmer zeigen.«
Gibbs, die reizlose, beängstigend dünne junge Frau, die sie eingelassen hatte, führte sie zurück in die Eingangshalle und dann nach rechts, in den zur Straße hin gelegenen Flügel des L-förmigen Gebäudes. Charlotte musste sich beeilen, um ihr folgen zu können. Sie folgte ihr durch den langen Flur zu einer etwa in der Mitte des Gangs gelegenen Tür und blickte in einen nur von einem spärlichen Licht erhellten Raum mit hoher Decke und einem gewaltigen Kamin – einst sicherlich Teil eines eleganten Salons. Die Kammer, die durch die Aufteilung des ehemaligen Raumes entstanden war, enthielt lediglich ein einziges, ärmliches Bett, kaum so breit, wie Charlotte groß war. Auf beiden Seiten des Bettes stand je ein kleiner Tisch mit einem Leuchter aus Messing. Vor der nächstgelegenen Wand befand sich ein Stuhl. An der gegenüberliegenden Wand standen drei schlichte Holztruhen, die zweifellos die Besitztümer der vorübergehenden Bewohnerinnen des Zimmers aufnehmen sollten.
»Sie wohnen mit Mae und Becky zusammen, beides schlanke Mädchen – Glück für Sie. Wahrscheinlich besuchen sie gerade eine Zimmernachbarin, aber sie sind sicher bald zurück. Unter der Treppe ist ein Wasserklosett, vor dem sich allerdings gewöhnlich eine Schlange bildet. Für nächtliche Notfälle stehen unter dem Bett Nachttöpfe. Wir wissen, wie es euch Wöchnerinnen geht. Jede ist selbst für das Leeren ihres Nachttopfes verantwortlich, jedenfalls bis zum neunten Monat. Unsere Ärzte sind der Ansicht, dass Bewegung gesund ist. Alle Mädchen hier haben Pflichten, die sie erfüllen müssen, solange sie dazu imstande sind. Auch Ihnen wird morgen beim Frühstück eine Aufgabe zugewiesen werden. Um acht Uhr. Haben Sie noch Fragen?«
Charlotte schwirrte der Kopf vor Fragen, aber sie verneinte nur stumm.
»Dann gute Nacht.« Gibbs verließ das Zimmer.
2
Über vergossene Milch soll man nicht weinen.
Warum beklagen, was geschehen ist und nicht ungeschehen gemacht werden kann?
Sophokles
Sie weiß nicht, ist es ein Traum oder Erinnerung – aber es ist ein wunderbares Gefühl. Sie ist in Sharsted Court und tanzt mit einem jungen Herrn, dessen Namen sie nicht mehr weiß oder den sie vielleicht auch nie kannte. Sie spürt den zurückhaltenden Druck seiner Hand auf ihrer behandschuhten Handfläche und sieht die warme Bewunderung in seinem scheuen Blick. Auch all die anderen bewundernden Blicke nimmt sie wahr, die ihr folgen, während sie sich mühelos den vorgeschriebenen Schritten des Tanzes hingibt. Sie empfindet,
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