Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
Raum besaß auf beiden Seiten Türen und war mit Tischen vollgestellt – er diente offensichtlich sowohl als Speise- als auch als Arbeitszimmer. Dem Beispiel der anderen folgend, trat Charlotte an einen langen Tisch an der Wand und legte sich ein Stückchen Brot und einen zähen Brocken kaltes Hammelfleisch auf einen Teller. Dazu goss sie sich eine Tasse schwachen, aber zum Glück warmen Tee ein. Sie setzte sich allein an einen Tisch, aus Angst vor den Fragen, die die anderen Mädchen ihr zweifellos stellen würden.
Sie hatte ihr Brot noch nicht einmal zur Hälfte gegessen, als Gibbs, die Helferin, die sie am Abend zuvor in ihr Zimmer begleitet hatte, mit einem schweren, ledergebundenen Buch in der Hand erschien und vor ihr stehen blieb. Sie sprach mit kühler Tüchtigkeit. Ihre ausdruckslosen Augen blickten Charlotte nur kurz an und richteten sich sogleich wieder auf das Buch in ihrer Hand.
»Nun also, wozu taugen Sie?«
»Wie bitte?«
»Wofür kann man Sie einsetzen? Waschen, kochen, nähen …?«
»Ich habe Erfahrung in Handarbeit. Sticken und …«
»Gut. Dann werden Sie Strümpfe stopfen. Zweiter Tisch … los, an die Arbeit.«
Charlotte nahm noch einen Bissen Brot, ließ den fettigen Hammel liegen und trank ihren Tee aus. Sie trug das Geschirr zurück zum Buffet und ging schließlich, als ihr keine Entschuldigung mehr einfiel, zögernd zu dem Tisch, den Gibbs ihr gezeigt hatte. Im Vorübergehen sah sie die geneigten Köpfe der anderen, eng zusammengesteckt, wie auf eine Schnur gezogene Perlen. Sie hörte ihr Tuscheln und Lachen und fürchtete, dass sie über sie sprachen. Die erste, die den Kopf hob und in Charlottes Richtung blickte, war eine blonde Frau mit langem, grobknochigem Gesicht und überraschend freundlichen Augen.
»Setz dich doch.« Sie räumte ihre Stopfsachen beiseite, sodass Charlotte sich neben sie setzen konnte.
»Danke«, sagte Charlotte leise, mit niedergeschlagenen Augen.
»Du bist neu hier.«
»Ja.« Charlotte zwang sich zu einem Lächeln und machte sich an die Arbeit. Sie versuchte, einen Strumpf zu finden, an dem noch genügend Material übrig war, um ihn zu stopfen.
»Ich bin Sally, Sally Mitchell.« Die blonde Frau lächelte, wobei sie zwei nicht ganz einwandfreie Zahnreihen entblößte. Ihre Vorderzähne standen leicht vor und waren auch nicht ganz gerade. Aber es war ein freundliches Lächeln. Anders als die prüfenden Blicke aus schmalen Augen, die die anderen ihr zuwarfen.
»Ich bin Miss Charlotte … Smith.«
» Miss Charlotte, ja?«, meinte eine andere Frau.
Charlotte blickte rasch auf und sah einen braunen Wuschelkopf, eine spitze Nase, einen Mund wie ein Strich.
»Und ich bin Lady Bess Harper«, flötete die Frau mit hoher affektierter Stimme und streckte geziert die Hand aus, wie zu einem Handkuss.
Die anderen Frauen lachten.
Bess lehnte sich zurück und sah Charlotte kalt an. »Ich frage mich echt, warum du hier in Milkweed Manor bist und nicht die Straße ein Stück weiter oben.«
»Was meinen Sie?«
»Queen Charlotte ist doch oben am Bayswater Gate. Da gehörst du eigentlich hin, mit deinem Namen und allem.«
»Queen Charlotte?«, wiederholte Charlotte verwirrt.
Mae, ihre hübsche Schlafgenossin, sagte: »Vielleicht meint sie, eine Königin pro Ort ist genug und möchte lieber unsere sein.«
»Aber nein, ich …«
An diesem Punkt warf Bess Harper, die dünnen Lippen missbilligend verkniffen, sodass sie fast verschwanden, ein: »Das Queen Charlotte Wöchnerinnen Hospital. Willst du behaupten, du hast noch nichts davon gehört?«
»Nein. Sollte ich?«
Bess sah vielsagend auf ihre Taille und Charlotte kämpfte gegen den Drang an, beschämt den Blick zu senken. Sie fädelte einen Faden ein und sagte leise: »Es ist mein erstes Mal.«
»Natürlich«, sagte Mae, »wie für uns alle.«
Bess grinste boshaft. »Klar, für mich auch. Das sowieso.«
Sally beugte sich zu Charlotte hinüber und erklärte freundlich: »Sie nehmen hier nur Mädchen, die vorher noch nie schwanger waren.«
»Sie wollen uns bessern«, sagte Bess. »Uns auf den geraden und schmalen Weg der Tugend zurückführen und so weiter.«
»Einen Fehler können sie vergeben«, seufzte Sally. »Aber wenn es noch einmal passiert, ist man erledigt.«
»Ja«, sagte Charlotte. »Ich glaube, die Vorsteherin sagte, das Manor House sei für ›bedürftige ledige Frauen, die ihr erstes Kind erwarten‹.«
»Bedürftig? Also bedürftig bin ich«, sagte Bess. »Oder was meint ihr?«
Mae nickte.
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