Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
gekannt.«
Als die Kutsche anfuhr, umklammerte sie fest ihre Reisetasche. Ihr weiter Umhang schützte sie vor dem feuchten Morgenwind, vor Schaulustigen – und auch vor dem Schlag, den das letzte Lebewohl ihres Vaters für sie bedeutet hatte. Sie würde nicht weinen, nicht jetzt, nicht hier, wo die Dorfbewohner, die sie kannte, sie sehen und auf die Idee kommen konnten, dass sie nicht einfach in die Ferien fuhr, sondern eine sehr viel freudlosere Reise antrat.
Beim »Checkers Inn« half der Kutscher ihr beim Aussteigen. Diesmal nahm sie nicht die Kutsche nach Hertfordshire, zu Tante Tilney, sondern stieg in die Kutsche nach London.
Das schwarze, geschlossene Gefährt rumpelte durch den Londoner Westen. Als der Kutscher die müden Pferde endlich mit einem lauten Brrrrr zum Halten gebracht hatte, erhob sich Charlotte hastig von ihrem Sitz, sammelte ihre Gepäckstücke und stieg aus, bevor der Kutscher ihr seine Hilfe anbieten konnte.
Eilig ging sie die Oxford Street hinauf, vorbei an mehreren Ladengeschäften – Schreibwaren, Tapeten, Porzellan, Glaswaren und Leinzeug. In der belebten Tottenham Court Road bog sie ab in Richtung Norden. Hier residierten Silberschmiede und Apotheker; dazwischen lagen alles andere als elegante Wohngebäude. Sie trat von den Pflastersteinen herunter und durchquerte die feuchten engen Gower Mews. Am Ende der Straße, zwischen Marktkarren und Mistwägen, blieb sie kurz stehen und blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurde. Dann schlüpfte sie durch die Hintertür des Old Towne Tea Shoppe, den sie jedoch, mit einem entschuldigenden Nicken in Richtung der Besitzerin, durch die Vordertür sogleich wieder verließ. Jetzt befand sie sich in der Gower Street, wo sie zum Schutz vor dem feinen Nebel und auch vor neugierigen Blicken ihren schwarzen Schirm öffnete. Mit gesenktem Kopf tat sie einen großen Schritt über die mit Unrat übersäte Gosse und schritt dann rasch und entschlossen weiter aus. Unter dem Straßenschild der Store Street blieb sie schließlich stehen und las noch einmal die Wegbeschreibung durch, die ihre Tante ihr aufgeschrieben hatte. Sie war an ihrem Bestimmungsort angekommen.
Charlotte sah auf. Sie stand vor einem alten Patrizierhaus, im Schatten großer Bäume gelegen, das sich wie drohend vor ihr erhob. Es war ein riesiges Gebäude mit zwei einander gegenüberliegenden dunklen Flügeln und einer kastenförmigen Mansarde, die über einem eindrucksvoll geschwungenen Portal wachte. Vor hundert Jahren mochte dies vielleicht ein ansehnliches Haus gewesen sein, die Bausubstanz wirkte noch immer solide, dabei aber kahl und freudlos – feuchtfleckiges Mauerwerk, strenge Linien, bar jeden Schmucks bis auf eine Hecke am Rand der moosbewachsenen Steine der Einfahrt. Sie sah kein Namensschild am Haus, was sie in ihrer Überzeugung, dass sie hier tatsächlich an der richtigen Adresse war, nur noch bestärkte.
Jetzt erst gestattete sie sich zu weinen. Hier, inmitten all der Menschen, die sie nicht kannten und sich keinen Deut um sie scherten, spürte sie unvermittelt wieder den kalten Stachel der Ablehnung ihres Vaters und empfand schmerzhaft den Verlust ihres Heims. Doch sie konnte seinen Abschiedsworten nicht beipflichten. Er mochte vielleicht froh sein, dass ihre Mutter diesen Tag nicht erlebte – Charlotte war es nicht.
Sie dachte an ihre teure Mutter, die geliebte Lillian Lamb, die Wärme und Mäßigung, eine zuverlässige, von tiefer innerer Freude getragene Ruhe ins Pfarrhaus und insbesondere in das Leben des Reverend Gareth Lamb gebracht hatte.
Charlotte hoffte verzweifelt, dass ihre Erinnerungen an ihre Mutter, die nun schon seit fünf Jahren tot war, nicht in ihr verblassen würden, nun, da sie alles verloren hatte, was ihr vertraut war – das Zimmer ihrer Mutter, ihr Porträt, den selbstvergessenen Blick ihres Vaters, der anzeigte, dass er an sie dachte. Seine Abschiedsworte hallten noch immer in ihrem Kopf wider und sie schwankte leicht, wenn sie an die Enttäuschung dachte, die ganz sicherlich das Gesicht ihrer Mutter überschattet hätte, und dennoch wünschte sie sich, dass ihre Mutter bei ihr wäre, diese heruntergekommene Straße mit ihr entlangginge, sie tröstete, wie sie es immer getan hatte, und ihr sagte, dass alles gut werden würde.
Ich wünschte, ich hätte deinen Glauben, Mutter. Ich wünschte, ich wäre eine nur halb so feine Dame, wie du es warst – oder auch nur eine halb so sittsame Pfarrerstochter. Hättest du
Weitere Kostenlose Bücher