Die Lady von Milkweed Manor (German Edition)
so hofft sie jedenfalls, keinen eitlen Triumph, nur reines Erstaunen und Entzücken angesichts der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird. Ihre Schwester Beatrice ist heute Abend nicht anwesend. Die schöne Bea musste mit einer Erkältung zu Hause bleiben. Es tut ihr zwar leid für sie, aber es ist dennoch herrlich, so umschwärmt zu sein, so begehrt, so reizend in ihrem himmelblauen Seidenkleid. Sie hat Bewunderer zuhauf und das ganze Leben liegt leuchtend vor ihr.
Die Musik endet und der junge Mann mit den goldenen Wimpern auf den blassen Wangen begleitet sie vom Tanzboden zurück. Ein flüchtiger Blick zeigt ihr grüne Augen und rotgoldenes Haar, doch als sie wieder hinsieht, hat schon ein anderer Tanzpartner seine Stelle eingenommen. Kühn legt er den Arm um sie, seine braunen Augen funkeln selbstsicher, ja dreist. Sie wendet sich ab, doch sie spürt seine Hand herrisch an ihrer Schulter, die sie wieder zu sich dreht. Sie möchte fliehen, die zudringliche Hand abschütteln.
Stattdessen wachte sie auf.
Verschwommen erkannte sie im Halbdunkel eine herabhängende Hand. Jemand, der im Bett neben ihr lag, hatte den Arm um sie gelegt. Bea? Nein , antwortete ihr Verstand. Du bist nicht mehr zu Hause. Ein tiefes Grauen, schwarze, bittere Furcht stiegen in ihr auf.
Bitte, bitte, lass alles ein Traum sein. Oh Gott, bitte …
Sie tastete unter die Decke und legte die Hand auf ihren Bauch, hoffte, ihn glatt und flach vorzufinden.
Bitte.
Ihre Hand fand eine weiche Wölbung. Sie zuckte zusammen, die Augen immer noch fest geschlossen.
Es darf nicht sein. Es darf einfach nicht sein.
Aber es war so.
Charlotte, die auf ihrer Seite ganz an die Kante des durchgelegenen Bettes gerutscht war, schlug widerwillig die Augen auf. Die Hand war noch da, unheimlich wie die Hand in ihrem Traum. Vorsichtig schob sie den Arm von ihrer Schulter und rutschte noch etwas weiter nach außen, bis sie fast aus dem Bett fiel. Ihr Rücken schmerzte. Unfähig, eine bequeme Lage zu finden, drehte sie sich um. Durch die Bewegung, die ihr schwerer fiel, als sie sich noch vor einem halben Jahr hätte vorstellen können, quietschte das Bett. Nun lag sie Nase an Nase mit Mae, die am Abend zuvor offensichtlich Zwiebeln gegessen hatte. Auf der anderen Seite des Bettes klammerte sich eine weitere junge Frau an den Bettrand. Drei Frauen, sechs Seelen, auf einer schmalen Lagerstatt. Sie lagen nebeneinander wie Würstchen in einer Pfanne und wie diese immer wieder gleichzeitig gewendet werden, drehte Mae sich jetzt ebenfalls um und auch die dritte junge Frau drehte sich auf die andere Seite, ohne aufzuwachen. Charlotte konnte sich nicht an ihren Namen erinnern. Sie wirkte sehr jung.
Charlotte war bereits zu Bett gegangen, als Mae hereingekommen war. Sie war todmüde gewesen und hatte gerade versucht, ihr Kopfkissen aufzuschütteln. Eine hübsche kleine Person, die etwa in ihrem Alter sein musste, war hereingekommen, hatte ihren Namen gemurmelt, sich ausgekleidet und war neben Charlotte ins Bett gekrochen, als hätten sie schon ihr ganzes Leben lang das Bett geteilt. Charlotte war selbst überrascht, dass sie kurz darauf tatsächlich eingeschlafen war. Sie hörte zwar noch, wie ihre zweite Zimmergenossin hereinkam, war aber zu müde, um sich ihr vorzustellen. Sie wollte nur noch schlafen. Im Schlaf konnte sie in ihr altes Leben zurückkehren.
Sie war kurz davor, wieder einzuschlafen, als sie aus einem anderen Teil des Hauses einen Schrei vernahm. Sie setzte sich so plötzlich auf, dass Mae neben ihr erwachte und stöhnte.
»Lieg doch still!«
»Ich habe etwas gehört.«
»Was denn?«
»Jemand hat geschrien.«
»Daran solltest du dich gewöhnen.« Mae drehte sich um, ihr langer roter Zopf landete auf Charlottes Kissen. »Die Babys kommen hier immer nachts auf die Welt.«
»Was?«
»Hast du noch nie eine Frau in den Wehen gehört?«
»Oh – nein, das habe ich nicht.«
Mae antwortete nicht und Charlotte vermutete, dass sie bereits wieder eingeschlafen war. Sie saß ganz still und lauschte. Aber sie hörte nichts mehr. Schließlich legte sie sich zurück, um wenigstens noch ein paar Stunden unruhigen Schlafs zu finden.
Am Morgen wachte Charlotte auf und stellte fest, dass sie allein im Bett lag. Sie erhob sich rasch, schlüpfte in ihr graues Tageskleid und ging dann dem Geräusch von Schritten und weiblichen Stimmen nach, durch die Eingangshalle in das große Esszimmer, das sie gestern auf dem Weg zu Mrs Moorlings Arbeitszimmer gesehen hatte. Der
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