Die Lagune Der Flamingos
unsicher, was er tun sollte. Er zögerte erneut.
Der junge Mann drehte sich derweil zu seinen Kumpanen hin und begann zu lachen. »Wollte mich nicht stören! Der Herr wollte mich nicht stören.« Sein Lachen klang falsch, dann nahm er Claudius auch schon wieder drohend in den Blick. »Bin ich es also nicht wert, dass man mit mir spricht?«
»Doch, ich …«
»Ja, was denn nun?«
Claudius wurde unbehaglich zumute. Er wich weiter zurück, doch nun tauchte einer der anderen Männer hinter ihm auf. Der zweite blockierte ihn seitlich. Der Wortführer stand direkt vor ihm. Die beiden jungen Frauen waren wie auf einen geheimen Wink hin verschwunden.
Vielleicht holen sie Hilfe, versuchte Claudius sich zu beruhigen, doch er wusste, dass er vergeblich hoffte.
Der erste Schlag traf ihn mitten ins Gesicht und ließ seine Nase knackend brechen. Der gleich darauffolgende schleuderte ihn in den Dreck. Ein Gemisch aus Blut und Rotz lief ihm in den Rachen, Blut tropfte aus Mund und Nase auf sein Hemd. Claudius versuchte aufzustehen, doch ein brutaler Tritt mit metallverstärkten Stiefeln warf ihn zurück auf den Boden. Er schrie auf. »Hilfe, so helft mir doch!« Doch ringsum blieb alles still. Niemand rührte sich. Noch einmal rief er um Hilfe.
»Maul halten!«, brüllte der junge Mann.
Dann trafen ihn weitere Tritte und Schläge. Anfangs versuchte Claudius noch, sich zu schützen, doch bald verließen ihn die Kräfte. Längst war sein ganzer Körper ein einziger pochender Schmerz.
»Hilfe«, gurgelte er kaum hörbar, »Hilfe! Will mir denn niemand helfen? Hilfe, Hi …«
Mina war an diesem Tag lange umhergestreift. Die meisten hielten ein solches Verhalten für zu gefährlich, doch das junge Mädchen konnte sich nichts Besseres vorstellen, als entführt zu werden. Kein Leben konnte schlimmer sein als die Hölle, in der sie lebte – noch nicht einmal die Aussicht, bei den Pampaindianern zu landen, von denen sie nur Schlechtes gehört hatte. Dieser südlich von Buenos Aires lebende Stamm, hieß es, gehöre zu den grausamsten aller Indianerstämme. Angeblich hielten sie ihre Frauen wie Sklaven und ließen sie schmutzige Lumpen tragen. Wenn sie nicht gerade auf der Jagd oder auf Raubzug waren, verbrachten die Männer ihre Zeit mit trinken, Glücksspiel und schlafen. Ein bitteres Lächeln malte sich auf Minas Lippen: Ganz offenbar gehörten der Stiefvater und ihr Stiefbruder zu den berüchtigten Pampaindianern.
Vorsichtig näherte sie sich nun ihrem Zuhause. Sie hatte ein Fenster eines der wenig genutzten Räume offen gelassen, das sie nun behutsam aufdrückte. Geschmeidig wie eine Katze kletterte sie hindurch und kam samtweich auf dem Boden auf. Sie hatte lange geübt, sich beinahe unhörbar zu bewegen und diese Kunst im Laufe der Zeit zur Perfektion gebracht. So schnell bemerkte sie keiner, wenn Mina es nicht wünschte.
Einen Moment lang blieb sie zur Sicherheit horchend in den Schatten stehen, doch alles blieb still. Fast schien es ihr, als sei das Haus leer. Als sie aus dem Zimmer trat, horchte sie erneut. Immer noch nichts. Die Küche lag bereits im Dämmerlicht, beleuchtet nur vom glutroten Schein aus dem Ofen. Im oberen Stockwerk waren jetzt Schritte zu hören, dann die Stimme ihrer Mutter.
»Mina, bist du das?«
»Ja, alles in Ordnung, ich wollte nur etwas trinken.«
Mina huschte in die Küche, trat zum Wasserkrug und schenkte sich einen Becher voll. Dann lehnte sie sich gegen den Spülstein und starrte Philipps Rock an, den dieser nachlässig über die Lehne eines Stuhls geworfen hatte. Durch das Fenster erspähte sie sein Pferd noch gesattelt und aufgezäumt im Hof. Offenbar war auch er gerade erst nach Hause gekommen.
Mina wandte sich wieder dem Rock zu. Sie hatte das Kleidungsstück an der leicht schiefen Naht erkannt, mit der sie einen Riss gestopft hatte. Philipp hatte ihr dafür die Lippen blutig geschlagen. Doch etwas weckte ihre Aufmerksamkeit, etwas schimmerte golden aus einer der Taschen hervor.
Mina stellte ihren Becher ab, ohne zu trinken, nahm den Rock ihres Stiefbruders hoch und zog den Gegenstand aus der Tasche.
Eine goldene Uhr! Sie riss die Augen auf. Das konnte nicht Philipps Uhr sein. Ihr Stiefbruder war stets in Geldnot. Niemals hätte er sich eine solche Uhr leisten können. Auch Xaver hatte ihm, bei aller Liebe zu seinem Sohn, bislang keine gekauft. Hatte er sie jemandem gestohlen? Philipp musste sie jemandem gestohlen haben!
Die Uhr in der Hand, drehte Mina sich um, trat an den Ofen
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