Die Lagune Der Flamingos
gewöhnte man sich zwangsläufig: Freie, noch auf die alte Art lebende Indianer durchstreiften die Gegend, sodass die Kolonisten sich gezwungen sahen, stets mit umgehängten Gewehren zu pflügen. Bei der Anlage der Behausungen achteten die Siedler darauf, je vier Häuser dicht beieinander zu errichten. Nachts stellten sie Wachen zum Schutz auf.
Doch mit den alteingesessenen argentinischen Nachbarn lief es ebenfalls nicht immer glatt. Das freundliche Willkommen wich bald Beschwerden über die Großzügigkeit, mit der die Regierung Ausländern Geschenke machte. Die Ansiedlung von Fremden in geschlossenen Kolonien führe zu einer gefährlichen Überfremdung des Landes, verlautete aus einer Debatte des argentinischen Senats. Der Beschluss erging, die Kolonisten zu trennen und auf verschiedene Dörfer zu verteilen. Die allerdings hielten aus und weigerten sich erfolgreich, als Pächter oder Tagelöhner fremdes Land zu bestellen oder sich auf andere Dörfer verteilen zu lassen. Nach diesem Erfolg waren bald weitere Familien aus Deutschland eingetroffen, unter den ersten die Amborns.
Irmelind runzelte die Stirn. Von Nachbarn hatte sie gehört, dass Frank neuerdings Probleme mit Xaver Amborn hatte. Aus irgendeinem Grund hatte Hermann es ihr nicht erzählt. Sie musste Frank unbedingt zur Vorsicht ermahnen. Mit den Amborns, das wussten alle, war nicht gut Kirschen essen. Schneller als alle anderen hatten sie ihren Weg gemacht. Man munkelte, das sei nicht mit rechten Dingen zugegangen. Während Irmelinds Familie nach Jahren immer noch in dem kleinen Häuschen, das sie gleich zu Anfang gebaut hatten, lebte, hatte Xaver es schon kurz nach seiner Ankunft zum Vorarbeiter bei den wohlhabenden Dalbergs gebracht. Sehr bald hatte er auch ein größeres Haus bauen können.
In all den Jahren hatte Irmelind selten mit Xaver Amborn gesprochen, häufiger mit Agnes, seiner ersten hübschen, netten und sehr fleißigen Frau, die nun schon über fünf Jahre tot war. Irmelind seufzte. Manchmal war ihr noch heute, als sehe sie Agnes in ihrem Garten. Immer hatte sie irgendeine Arbeit verrichtet. Den Garten und ihre Blumen hatte sie besonders geliebt. Wenn Irmelind und Agnes miteinander geredet hatten, war es Irmelind erschienen, als wolle Agnes ihr etwas anvertrauen, könne sich aber nicht dazu durchringen, es zu tun. Und dann hatte es eines Tages geheißen, sie habe sich bei einem Sturz das Genick gebrochen. Es gab einige, die sagten, auch das sei nicht mit rechten Dingen zugegangen. Nicht laut natürlich. Man sagte so etwas nicht laut über die Amborns.
Irmelind trat vom Fenster zurück, ging zum Tisch und beugte sich wieder über den Brotteig, den sie bald mit aller Kraft walkte und knetete. Am Morgen war Cäcilie Liebkind nach langer Zeit wieder einmal bei ihr gewesen. Irmelind konnte sich nicht erinnern, wann Cäcilie sie das letzte Mal besucht hatte. In jedem Fall war es sehr, sehr lange her gewesen.
»Claudius kommt zurück, Irmelind«, hatte sie aufgeregt hervorgebracht.
Irmelind hatte Cäcilie angestarrt. Für einen Moment war es, als stünde die Zeit still. Sie konnte sich einfach nicht rühren.
»Vielleicht will er euch sehen«, sagte Cäcilie vorsichtig. »Vielleicht möchte er sich entschuldigen. Es ist so lange her, vielleicht könnten wir einander …«
Cäcilie brach ab.
Weil sie das Wort nicht aussprechen kann, dachte Irmelind, weil sie weiß, dass sie es nicht aussprechen darf. Verzeihen kann nur ich, und ich will es nicht. Ich will ihn nicht sehen, und ich will ihm nicht verzeihen.
Ich verzeihe nichts, wollte Irmelind ausrufen, doch sie biss sich auf die Lippen, als sie den flehenden Ausdruck auf Cäcilies Gesicht sah.
»Er muss …«, begann sie also stattdessen und musste neu ansetzen, weil ihr Mund so trocken war, »… Claudius muss jetzt schon vierzig Jahre alt sein.«
»Ja.« Cäcilie senkte den Kopf.
»Habt ihr ihn manchmal besucht in letzter Zeit? Er hat wieder geheiratet, oder? Geht … geht es ihm gut? Er hat keine Kinder, oder?«
»Ja, er … Nein … Ach, Irmelind, ich …«
»Du musst nichts sagen, wir wollten das alle nicht. Es war ein Unfall oder etwa nicht? So etwas passiert. Gott gibt, Gott nimmt.« Irmelind trat zurück, bis sie im Türrahmen stand, streckte eine Hand aus und hielt sich dann an der Tür fest. »Würdest du mich jetzt bitte allein lassen, Cäcilie?«
Die Reise hatte Claudius Liebkind erschöpft. Er war es nicht mehr gewöhnt, so lange zu reiten. Bevor er sich zu seinen Eltern
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