Die Landkarte der Liebe
über die abgewetzten Ränder und den gebogenen Buchrücken. Die cremefarbenen Seiten waren seit dem Missgeschick mit dem Bierglas aufgequollen und lieÃen sich nur schwer umblättern.
Für Katie war das Tagebuch ein Geschenk des Himmels gewesen. Sie hatte sich an ihr Vorhaben gehalten, nur einen Eintrag pro Tag zu lesen. Doch nun, wo sie Mias Weg verlassen würde, konnte sie den Leserhythmus ändern. Sie blätterte zu der Stelle vor, zu der sie gekommen war â Mia und Finn auf ihrem Weg durch die Gluthitze des Death Valley.
Mia schilderte die beeindruckende, künstliche Schönheit der Hoover-Talsperre und schwärmte von einem kleinen StraÃenimbiss, an dem es die besten Tacos gab, die sie je gegessen hatte. Sie erzählte, wie sie sich mit Finn ein warmes Bier geteilt hatte und wie ein Truthahngeier über dem Grand Canyon kreiste. Sie waren durch den Joshua-Tree-Nationalpark gewandert und hatten gewaltige rote Felsen erklommen, um den Anblick aus der Höhe zu genieÃen.
Mia, du kommst mir hier so glücklich vor: Was hat sich bloà geändert? Du hast mit Finn so viele wundervolle Erlebnisse geteilt, und doch warst du am Ende allein auf Bali. Was hattest du mitten in der Nacht auf dieser Klippe zu suchen? Sind dir meine Worte durch den Kopf gegangen? Hast du es getan, Mia? Bist du wirklich gesprungen? Mein Gott, Mia, was ist dir widerfahren?
Ihr Blick brannte sich in das Tagebuch, sie schlug eine Seite nach der anderen um. Ihr war, als würde sie Mias Brustkorb öffnen, Muskeln und Knochen freilegen und direkt auf ihr Herz schauen. Alles, was Mia gefühlt und erlebt hatte, lag vor ihr. Katie ignorierte die schwere Last des Rucksacks. Sie hetzte durch die Zeilen und verschlang ganze Einträge. Plötzlich schnappte sie nach Luft. Sie war auf etwas Erstaunliches gestoÃen. Auf einen Namen.
Mick.
Mia hatte geschrieben, dass sie zu ihrem Vater wollte, den sie beide seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen hatten. Für ihre Mutter war sein Name mit einer solch schweren Enttäuschung belastet, dass es auch Mia und Katie nie dazu gedrängt hatte, sich bei ihm zu melden. Das zumindest hatte Katie angenommen. Sie blätterte weiter, in der Hoffnung, dass Mias Wunsch nur eine Laune gewesen war.
Doch es folgten weitere Details. Auf einer Doppelseite klebte ein linierter Zettel, offenbar mit seiner Adresse, in einem Gewirr aus Worten, Fakten und Betrachtungen. Zwei Fragen waren dick umrandet: Wer ist Mick? , und: Wer bin ich? Die Fragen bohrten sich in Katies Kopf, bis sie auf eine Erinnerung stieÃen.
Zwei Monate vor ihrer Reise hatte Mia Katie um drei Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen. »Hab meine Schlüssel verloren«, hatte sie gelallt und einen Finger auf die Lippen gelegt. Ihr Kajalstift war verschmiert, in ihrer Hand baumelten hochhakige, abgetragene Schuhe.
»Oh, Mia«, hatte Katie geseufzt und ihr durch den Flur geholfen. »Warum tust du dir das an?«
»Weil«, hatte sie geantwortet, als sie hinter Katie ins Wohnzimmer gestolpert war, »ich sonst nichts auf die Reihe krieg.«
Katie hatte sie kurz allein gelassen. Sie war in die Küche gegangen, hatte Luft geholt, sich am kühlen Rand des Spülbeckens festgehalten und die Augen geschlossen. So etwas kam anscheinend regelmäÃig vor. Die Hinweise sprachen jedenfalls für sich â die Wohnungstür knallte mitten in der Nacht zu, Katies Arzneitäschchen lag morgens durchwühlt im Bad, und die Kopfschmerztabletten fehlten, in der Küche fanden sich die Spuren nächtlicher HeiÃhungerattacken. Das Trinken und die düstere Stimmung, die dem folgte, waren Reaktionen auf den Verlust ihrer Mutter, und darum hatte Katie auch nie ein Wort über die nächtlichen StöÂrungen oder das Durcheinander, das sie am nächsten Morgen beseitigte, verloren.
Sie war die ältere Schwester, und für sie war es selbstverständlich, dass sie Opfer brachte. Als Mia mit sechs Jahren bei dem Krippenspiel der Schule mitgemacht, aber den Mund nicht aufbekommen hatte, war Katie auf die Bühne gegangen, hatte Mias feuchtes Händchen gehalten und den Text an ihrer Stelle aufgesagt. Als Mia mit siebzehn Jahren glaubte, sie wäre schwanger, war Katie auf der Stelle zu ihr geeilt, obwohl sie dadurch den Sommerball der Universität verpasste. Und als Mias Studentenkredit bei einer Reise nach Mexiko verschlungen wurde und sie die Miete nicht mehr
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