Die Landkarte der Liebe
zahlen konnte, hatte ihr Katie natürlich ausgeholfen â auch wenn sie damals selbst sehr knapp bei Kasse war. Es war, als säÃen sie beide mit ihren unterschiedlichen TempeÂramenten und Persönlichkeiten auf einer Wippe fest: Mia, die Wilde, hoch oben in der Luft, Katie, die Bodenständige, unten. Sie liebte ihre Schwester heià und innig, aber seit einiger Zeit meldete sich auch ein leiser Groll.
Plötzlich dröhnte Musik aus dem Wohnzimmer. Katie durchfuhr es heià und kalt. Die Nachbarn! Unter ihnen wohnte ein grundsolides Paar mit Baby.
»Mia!«, rief sie, marschierte ins Wohnzimmer â und blieb stehen.
Mia tanzte mit geschlossenen Augen zwischen Couchtisch und Sofa, ihr langes Haar schwang auf dem Rücken hin und her. Sie wiegte sich zu Soulmusik, eine Schallplatte ihrer Mutter. Sie wirbelte mit den Fingern durch die Luft, als würde sie an den Klängen entlangstreichen. Sie drehte sich, ihr Rock blähte sich auf. Als sie die Augen öffnete und Katie entdeckte, grinste sie und streckte eine Hand aus.
Einen Moment lang sah Katie die achtjährige Mia vor sich, die klatschnass und schlammverspritzt im Garten durch den Sommerregen tanzte. Katie zog es zur Musik, zu ihrer Schwester. Sie lieà die Schultern locker, und die Seide ihres Nachthemds schwang um ihre Hüften. Sie lächelte, als Mia ihre andere Hand nahm und Katie im Kreis herumwirbelte.
Sie wurden immer ausgelassener und lachten über ihre albernen Verrenkungen. Mia machte das Sofa zur Bühne, ihre nackten FüÃe sanken in das weiche Leder, sie musste sich mit den Fingerspitzen an der Zimmerdecke abstützen. Katie erinnerte sich plötzlich an einen Tanz, den sie beide als Kinder vor dem Spiegel geprobt hatten, und sie machte ihn so perfekt nach, als wäre sie wieder zehn Jahre alt. Lachend fielen sie auf das Sofa. Mia schlang die Arme um Katie, und Katie wusste diese Geste sehr wohl einzuordnen â ein seltener Gefühlsausbruch unter dem Einfluss von Alkohol.
Als die Schallplatte zu Ende war, herrschte im Apartment wieder Stille. Sie blieben Arm in Arm liegen, mit klopfendem Herzen, auÃer Atem. Mia sagte in die Dunkelheit hinein: »Du erinnerst mich so sehr an Mum.«
»Wirklich?«, sagte Katie behutsam, um nicht die flüchtige Nähe zu verscheuchen, die ihre wärmenden Flügel über sie gebreitet hatte.
»Ihr zwei wart die eigentlichen Schwestern.«
Ein langes Schweigen breitete sich aus. Nach einer Weile durchbrach Mia die Stille: »Hast du dich nie gefragt, warum uns Mick verlassen hat?«
Ãberrascht setzte sich Katie auf. »Das ist doch bekannt. Weil er ein Egoist war.«
»Aber vielleicht gab es noch andere Gründe.«
»Ja. Zum Beispiel Charakterlosigkeit.« Ein Polizeiauto fuhr vorbei. Sein Blaulicht flackerte durchs Zimmer. »Warum erwähnen wir ihn überhaupt? Er hat schlieÃlich nie einen Gedanken an uns verschwendet.«
»Und woher wissen wir das so genau?«
»Wir wissen das, weil er uns im Stich gelassen hat.« Katie stand auf.
Mia legte die FüÃe auf das Sofa. Die Sohlen waren schwarz.
»Trink lieber noch ein Glas Wasser, bevor du schlafen gehst.«
Als Katie das Zimmer verlieÃ, hörte sie hinter sich: »Was, wenn ich wie er bin?«
Sie blieb stehen. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Doch als Mia nichts mehr sagte, ging Katie weiter Richtung Bett. Sie hatte Mias Bemerkungen als betrunkenes Geschwafel abgetan und gar nicht erst in Erwägung ziehen wollen, dass Mia in dem Moment ihren Ãngsten Ausdruck verliehen hatte. Eilig blätterte sie um. Sie musste wissen, wohin Mias Beschäftigung mit Mick geführt hatte.
Auf der nächsten Seite klebte lediglich das Stück einer Bordkarte nach Maui. Mia und Finn waren einen Tag später nach Hawaii geflogen.
»Was kann ich für Sie tun?« Vor Katie stand eine lächelnde Angestellte mit einem buttergelben Tuch über der Bluse. Sie war am Ticketschalter angekommen.
»Ich möchte einen Flug buchen.«
»Kein Problem, Madam. Wohin fliegen Sie?«
Katie spähte auf das Tagebuch. War Mias Entschluss, Mick aufzusuchen, entscheidend für alles Spätere gewesen? Wenn sie nun nach Hause flöge, blieb ihr keine Wahl. Dann müsste sie die offizielle Meinung zu Mias Tod akzeptieren. Auf diesem Weg würde sie die Wahrheit nie erfahren.
Vorsichtig schloss sie das Tagebuch. »Nach
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