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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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sie schluckte und das Gesagte zu verdauen suchte, mit der Tatsache fertigzuwerden |405| suchte, dass sie es gewesen war, die diese Situation heraufbeschworen hatte, besser gesagt, demnächst heraufbeschwören würde.
     Wenn er sie jetzt liebte, dann deswegen, weil sie zuvor ihn geliebt hatte. Claire senkte den Blick in ihre Tasse, als ob sie
     im Bodensatz des Tees sehen könnte, wie er im Jahr 2000 verwirrt den besagten Brief las, in dem eine Unbekannte aus einem
     anderen Jahrhundert, eine Frau, die lange tot war, ihm schrieb, wie sehr sie ihn liebte. Und sie war es, die diesen Brief
     geschrieben hatte. Tom ließ sie nicht zu Atem kommen und machte weiter, wie ein Holzfäller, der merkt, dass der Baum, an dem
     er seit Stunden herumhackt, zu schwanken beginnt, und der die Axt jetzt noch heftiger schwingt.
    «In deinem Brief sagtest du, dass wir uns in der Zukunft kennenlernten beziehungsweise ich dich in der Zukunft kennenlernte,
     weil du mich ja schon kanntest», erklärte er. «Du batest mich auch, dir zu antworten, du müsstest mehr von mir wissen. Obwohl
     mir das alles sehr befremdlich erschien, schrieb ich dir einen Antwortbrief, den ich bei meiner nächsten Reise ins 19.   Jahrhundert, die zwei Tage danach stattfand, unter demselben Grabstein ablegte. Bei meiner dritten Reise fand ich deine Antwort,
     und so begannen wir unsere Korrespondenz durch die Zeit.»
    «Mein Gott», hauchte Claire.
    «Ich wusste nicht, wer du warst», fuhr Tom unerbittlich fort, «aber ich verliebte mich in dich, in die Frau, die mir diese
     Briefe schrieb. Ich schloss die Augen und stellte mir dein Gesicht vor. Dein Name klang mir in den Nächten in den Ruinen meiner
     zerstörten Welt wie Musik in den Ohren.»
    Claire rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, kam aus |406| dem Staunen nicht heraus und ließ wieder einen langen, heiseren Seufzer hören.
    «Wie viele Briefe haben wir uns geschrieben?», brachte sie schließlich heraus.
    «Sieben», sagte Tom, weil ihm das eine gute Zahl zu sein schien, nicht zu viele und nicht zu wenige. «Zu mehr reichte die
     Zeit nicht, weil die Zeitmaschine verboten wurde. Aber ich versichere dir, meine Liebste, es waren genug.»
    Als sie den Hauptmann diese Worte aussprechen hörte, stieß Claire einen weiteren Seufzer aus.
    «In deinem letzten Brief nanntest du mir den Tag, an dem wir uns begegnen würden: den 20.   Mai des Jahres 2000, der Tag, an dem ich Salomon besiegen und den Krieg beenden würde. An diesem Tag befolgte ich deine Anweisungen
     und suchte mir nach dem Sieg über die Maschinenmenschen ein stilles Plätzchen zwischen den Trümmern. Dann sah ich dich. Und
     wie du mir geschrieben hattest, ließest du deinen Sonnenschirm fallen, damit ich ihn dir heute mit Hilfe der Zeitmaschine
     zurückbringen konnte. Sobald ich in deiner Zeit angekommen war, sollte ich zum Markt von Covent Garden gehen, da würdest du
     mich treffen, und dann sollte ich dich zum Tee einladen und dir alles berichten.» Tom machte eine Pause, bevor er in träumerischem
     Ton fortfuhr: «Und jetzt verstehe ich auch, warum: damit diese Zukunft wahr wird. Verstehst du, Claire? Du schreibst mir diese
     Briefe in der Zukunft, weil ich dir heute sage, dass du sie mir schreiben wirst.»
    «Mein Gott», stieß Claire atemlos hervor.
    «Aber da ist noch etwas, das du wissen musst», verkündete Tom; entschlossen, dem schwankenden Baum den |407| entscheidenden Schlag zu versetzen. «In einem deiner Briefe sprachst du davon, wie wir uns am heutigen Abend geliebt haben.»
    «Was?», fragte das Mädchen mit versagender Stimme.
    «Ja, Claire. Heute noch werden wir uns in der Pension dort auf der anderen Straßenseite lieben, und nach deinen eigenen Worten
     wird es das wundervollste Erlebnis deines Lebens werden.»
    Claire starrte ihn ungläubig an, ihre Wangen röteten sich.
    «Ich verstehe, dass dich das überrascht; aber was glaubst du, wie es mir erging? Für mich war es unfassbar, zu lesen, wie
     wir uns geliebt hatten, was aus deiner Sicht ja schon passiert war, aber für mich eben noch nicht.» Er schwieg und schenkte
     ihr ein zärtliches Lächeln. «Ich bin aus der Zukunft gekommen, damit sich mein Schicksal erfülle, das heißt, um dich zu lieben,
     Claire.»
    «Aber ich   …», sagte sie abwehrend.
    «Begreifst du denn nicht? «Wir müssen uns lieben, Claire», sagte Tom, «weil wir uns in Wirklichkeit bereits geliebt haben.»
    Das war der letzte Axthieb gewesen. Und wie der Baum begann Claire zu schwanken,

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