Die Landkarte der Zeit
längst getan hatten. Er hatte
ein ganzes Jahrhundert durchquert, um die Maschinerie ihrer Romanze anzuwerfen, um zu entfesseln, was bereits geschehen war,
aber noch nicht stattgefunden hatte. Die Kleine schien zu dem gleichen Schluss zu kommen. Welche Alternative hatte sie denn?
Ihr bisheriges Leben weiterleben und einen ihrer Verehrer heiraten? Jetzt |411| hatte sie die Möglichkeit, das wirklich werden zu lassen, wovon sie schon als Kind geträumt hatte: eine Liebe, größer als
das Leben; eine Liebe jenseits aller Zeit. Wenn sie diese Gelegenheit nicht wahrnahm, wäre das so, als hätte sie sich ihr
ganzes Leben lang belogen.
«Das schönste Erlebnis meines Lebens», lächelte sie. «Das habe ich wirklich geschrieben?»
«Ja», antwortete Tom ohne jedes Zögern. «Genau das waren deine Worte, Claire.»
Sie schaute ihn unentschlossen an. Sie konnte doch nicht einfach so mit einem völlig Fremden ins Bett gehen. Andererseits
war dies ein Ausnahmefall: Wenn sie sich ihm nicht hingab, würde das ungeahnte Folgen für das Universum haben. Sie musste
sich opfern, um die Welt zu retten. Aber handelte es sich überhaupt um ein Opfer? Liebte sie ihn denn nicht? War dieser Gefühlstumult,
den jeder seiner Blicke in ihrer Brust hervorrief, etwa keine Liebe? Nein, es konnte nichts anderes sein. Dieses Gefühl, das
sie von innen her strahlen und ihre Knie zittrig werden ließ, konnte nur Liebe sein. Hauptmann Shackleton hatte ihr versichert,
dass sie sich heute lieben würden und sie ihm danach wundervolle Briefe schrieb. Warum sollte sie sich dem verweigern, wenn
es doch das war, was sie sich eigentlich ersehnte? Aus dem einfachen Grund etwa, dass sie es ja schon getan hatte, dass sie
auf den Spuren einer anderen Claire wandelte, die ja letzten Endes sie selbst war? Weil sie spürte, dass es kein aufrichtiger
Wunsch war, wegen des unangenehmen Beigeschmacks von Unvermeidlichkeit, der einer Handlung innewohnte, die eigentlich spontan
hätte sein sollen? Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger fand sie einen haltbaren Grund, sich einer Sache |412| zu verweigern, die sie sich von ganzem Herzen wünschte. Weder Lucy noch sonst eine ihrer Freundinnen würden es gutheißen,
sich einem völlig Fremden hinzugeben. Und genau dies gab den Ausschlag. Ja, sie würde mit Hauptmann Shackleton schlafen und
sich dann den Rest ihres Lebens nach ihm sehnen, ihm wunderschöne lange Briefe schreiben, getränkt mit ihrem Parfum und ihren
Tränen. Sie wusste, dass sie stark und ausdauernd genug sein würde, das Feuer einer Liebe zu bewahren, auch wenn sie den Menschen,
der es entzündet hatte, niemals wiedersehen sollte. Es war offenbar ihre Bestimmung. Eine außergewöhnliche Bestimmung, ein
unwiderstehlich tragisches Schicksal, das dennoch sehr viel angenehmer zu ertragen sein würde als die langweilige Ehe mit
einem ihrer faden Verehrer. Sie zwang sich zu einer entschlossenen Miene.
«Ich hoffe, Ihr Mannesstolz hat Sie nicht übertreiben lassen, Hauptmann», scherzte sie.
«Ich fürchte, es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden», antwortete Tom lächelnd.
Dass Claire ihre Entscheidung auf diese heitere Art kundgetan hatte, erleichterte Tom enorm. Er würde ihren Körper zwar nur
durch niederträchtige Tricks in Besitz nehmen können und dann für immer aus ihrem Leben verschwinden, aber dass sein ehrloses
Verhalten, obwohl er eigentlich immer noch der Meinung war, dass diese hochmütige junge Dame nichts anderes verdient hatte,
ihm doch ein tiefsitzendes Unbehagen bereitete, zeigte ihm, dass er noch nicht alle Skrupel über Bord geworfen hatte. Aber
dieses Unbehagen wurde jetzt gemildert, da die Kleine ja anscheinend entschlossen war, auch ihr Vergnügen aus der Begegnung
mit Hauptmann Shackleton zu |413| ziehen, dem tapferen Helden, dessen Namen sie in den Trümmern der Zukunft flüstern würde.
Im Vergleich zu den Absteigen, in denen Tom üblicherweise seine Nächte zu verbringen pflegte, wirkte die Pension sauber und
beinahe sogar anheimelnd. Einem Mädchen wie Claire mochte sie vielleicht geschmacklos und ihrem Stand unangemessen erscheinen,
aber sie hatte jedenfalls keinen Grund, entsetzt die Flucht zu ergreifen. Während Tom sich den Zimmerschlüssel geben ließ,
beobachtete er, wie sie unbekümmert die Bilder an den Wänden musterte, und bewunderte ihre Art, ein weltgewandtes Auftreten
zur Schau zu stellen, als sei es für sie ganz normal, sich abends mit
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