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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Männern aus der Zukunft in heruntergekommenen Pensionen
     zu treffen. Dann gingen sie die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sich das Zimmer befand, und als Tom sie auf dem schmalen
     Flur mit dieser selbstverachtenden Zielstrebigkeit vor sich hergehen sah, wurde ihm klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab.
     Sie würden sich lieben, und er würde den nackten Körper dieses Mädchens in seinen Armen halten. Ungezügeltes Verlangen loderte
     in ihm auf. Er musste sich zusammenreißen, als sie vor der Tür ihres Zimmers ankamen und Claire sich plötzlich versteifte.
    «Ich weiß, es wird wundervoll sein», sagte sie mit halbgeschlossenen Augen, als müsse sie sich Mut zusprechen.
    «Das wird es, Claire», bestätigte Tom, der kaum noch warten konnte, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. «Du selbst hast es
     mir gestanden.»
    Das Mädchen nickte und seufzte ergeben. Tom schob die Tür auf, ließ Claire mit einer höflichen Neigung des Kopfes den Vortritt
     und schloss hinter ihnen ab. Nachdem |414| sie im Zimmer verschwunden waren, lag der schmale Flur wieder verlassen da. Durch das Fenster am Ende des Gangs, dessen schmierige
     Scheiben nach einer gründlichen Reinigung verlangten, fiel das Licht des sich neigenden Tages. Es war ein sterbender Glanz
     von kupferner Färbung, ein samtener, beinahe ängstlicher Schimmer, der die in der Luft tanzenden Staubkörnchen wie gläserne
     Insekten aussehen ließ. Obwohl sie vielleicht besser mit einem Pollenregen verglichen würden, wie sie so zögernd und ziellos
     durch die Luft trieben. Hinter einigen der Türen war das unverwechselbare Kampfgetümmel von Liebesspielen zu hören: heiseres
     Stöhnen, unterdrückte Schreie, sogar der eine oder andere Klaps auf nacktes Fleisch; Geräusche, die in Verbindung mit dem
     rhythmischen Knarren von Bettgestellen davon kündeten, dass die Liebe, die hier gemacht wurde, keine eheliche war. Aber es
     gab auch andere Geräusche, Gesprächsfetzen oder das Weinen eines Kindes, die die verschwommene Symphonie des Lebens vervollständigten.
     An den Wänden des etwa dreißig Meter langen Flurs hingen düstere Landschaftsgemälde und ein paar Öllampen, die der Besitzer
     des Etablissements, Mr.   Pickard – es wäre unhöflich, ihn nicht vorzustellen, auch wenn er in dieser Erzählung nicht mehr auftaucht   –, sich in diesem Augenblick anzuzünden anschickte, damit seine Gäste bei ihrem mehr oder weniger hastigen Aufbruch später
     nicht ins Stolpern gerieten.
    Es sind seine Schritte, die man jetzt auf der Treppe hört. Jede Nacht fiel ihm das Erklimmen der Stufen schwerer, denn die
     Jahre vergehen nicht umsonst, und seit einiger Zeit konnte er nicht umhin, das Erreichen der obersten Stufe mit einem triumphierenden
     Seufzer zu beschließen. |415| Mr.   Pickard zog eine Streichholzschachtel aus der Hosentasche und begann das halbe Dutzend Lampen im Flur anzuzünden. Er nahm
     sich Zeit dazu, führte das angerissene Streichholz mit der Eleganz eines Fechtmeisters, der eine Finte schlägt, unter die
     Glastulpe an den ölgetränkten Docht. Die Zeit hatte aus diesem Akt eine mechanische Zeremonie gemacht, die er mit abwesendem
     Blick zelebrierte. Keiner seiner Gäste hätte sagen können, was während dieses Rituals in Mr.   Pickards Kopf vorging; aber ich bin kein Gast, und was in seinem Gehirn und dem jeder anderen Person dieser Geschichte vorgeht,
     steht mir klar vor Augen. Mr.   Pickard dachte in diesem Augenblick an seine kleine Enkelin Wendy, die vor über zehn Jahren an Scharlach gestorben war. Er
     verglich sein Anzünden der Lampen unwillkürlich mit dem, was der Schöpfer mit seinen Kreaturen tat, die er aufleben und erlöschen
     ließ, wie es ihm in den Sinn kam, ohne dass jemand seine Gründe verstand und ohne sich darum zu kümmern, wie viele Menschen
     er damit in die Dunkelheit stieß. Nachdem er die letzte Lampe angezündet hatte, stieg Mr.   Pickard wieder die Treppe hinunter und verließ diese Geschichte ebenso unauffällig, wie er sie betreten hat.
    Der Flur lag jetzt wieder so verlassen da wie vorher, nur besser beleuchtet. Vielleicht macht es Sie unruhig, wenn ich wieder
     mit der Beschreibung des Flurs anfange, aber ich fürchte, genau das werde ich tun, denn ich habe keineswegs die Absicht, hinter
     die Tür zu schauen, hinter der Tom und Claire sich befinden, und ihre Intimität zu belauschen. Ergötzen Sie sich an den zitternden
     Schatten, die die Öllampen auf die Blumenmuster der Tapete werfen.

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