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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Shackleton.
    «Wie kannst du mich lieben? Du kennst mich ja gar nicht?», rief das Mädchen mit kokettem Lächeln.
    Das war nicht die Reaktion, auf die Tom gehofft hatte. Er verbarg seine Verstimmung hinter einem Schluck aus der Teetasse.
     War ihr etwa nicht klar, dass die Zeit gerade noch reichte, um einander in die Arme zu sinken? Nur noch drei verdammte Stunden!
     Hatte er ihr das nicht deutlich genug klargemacht? Er stellte die Teetasse auf den Unterteller und warf einen Blick auf die
     Straße, auf die Pension gegenüber mit ihren ersehnten frischbezogenen Betten, die immer unerreichbarer wurden. Das Mädchen
     hatte recht, er kannte sie gar nicht, und sie kannte ihn auch nicht. Und solange sie Unbekannte füreinander waren, würden
     sie nie miteinander im Bett landen. Er hatte sich alle Wege verbaut. Doch was wäre, wenn sie sich schon kannten? Schließlich
     kam er aus der Zukunft. Was konnte ihn hindern, ihr zu sagen, dass sie sich von seiner Warte aus längst kannten? Zwischen
     dieser Begegnung und der im Jahr 2000 konnten alle möglichen Dinge passiert sein, da konnte er sich ausdenken, was er wollte,
     weil die Kleine nichts dagegenhalten könnte, sagte er sich und glaubte damit die perfekte Strategie gefunden zu haben, um
     sie wie ein Lamm in die Pension führen zu können.
    |403| «Da irrst du dich, Claire. Ich kenne dich viel besser, als du denkst», sagte er in einem Ton, als müsse er ihr beichten, wobei
     er seine Hand wie ein verletztes Vögelchen zwischen ihren Händen ruhen ließ. «Ich weiß, wie du bist, wovon du träumst, wonach
     du dich sehnst, wie du die Welt siehst. Ich weiß alles über dich, und du weißt alles über mich. Ich liebe dich, Claire. Ich
     habe mich in einer Zeit in dich verliebt, die noch nicht angebrochen ist.»
    Sie schaute ihn verblüfft an.
    «Aber wenn wir uns nicht mehr wiedersehen», sagte sie nachdenklich, «wie sollen wir uns dann kennenlernen? Wie willst du dich
     da in mich verlieben?»
    Tom brach der Schweiß aus, als er erkannte, dass er in seine eigene Falle getappt war. Einen Fluch unterdrückend, ließ er
     seinen Blick über die Straße schweifen, um Zeit zu gewinnen. Was konnte er ihr darauf noch antworten? Auf der Straße jagten
     Kutschen in beide Richtungen, bahnten sich ihren Weg zwischen den Karren der Händler. In dem Hin und Her erblickte Tom plötzlich
     einen Briefkasten, der rot und fest und mit den Initialen der Königin Victoria an der Vorderseite auf der anderen Straßenseite
     stand.
    «Ich habe mich durch deine Briefe in dich verliebt», brach es plötzlich aus ihm heraus.
    «Durch meine Briefe? Wovon sprichst du überhaupt?», rief Claire verwundert.
    «Von den Liebesbriefen, die wir uns geschrieben haben.»
    Das Mädchen schaute ihn entsetzt an. Tom begriff, dass das, was er ihr sagen würde, glaubwürdig klingen musste, denn davon
     hing ab, ob sie sich ihm ein für alle Mal |404| hingeben oder aufspringen und ihn ohrfeigen würde. Er lächelte verhalten und schloss die Augen, als hänge er Erinnerungen
     nach, derweil er einen klaren Gedanken zu fassen versuchte.
    «Es geschah auf meiner ersten Erkundungsreise in deine Zeit», begann er schließlich. «Ich erschien auf der Anhöhe, die ich
     vorhin erwähnt habe, und wanderte nach London. Dort stellte ich fest, dass die Zeitmaschine bei der Öffnung des Zeittunnels
     absolut zuverlässig gearbeitet hatte. Ich war vom Jahr 2000 zum 8.   November 1896 gereist.»
    «Zum 8.   November?»
    «Ja, Claire, zum 8.   November, das heißt übermorgen», bestätigte Tom. «Das war mein erster Besuch in deinem Jahrhundert. Aber ich hatte kaum Zeit,
     mich umzusehen, da ich wieder auf dem Hügel sein musste, bevor sich das Zeitloch schloss. Als ich gerade im Begriff stand,
     den Tunnel zu betreten, der mich ins Jahr 2000 zurückbringen sollte, bemerkte ich dann etwas, das ich bei der Ankunft übersehen
     hatte.»
    «Was?», fragte Claire aufgeregt.
    «Unter dem Grabstein eines gewissen John Peachey lag ein Brief. Ich schaute ihn mir an und stellte voller Staunen fest, dass
     er an mich gerichtet war. Ich steckte ihn ein und las ihn im Jahr 2000.   Es war der Brief einer unbekannten Dame aus dem 19.   Jahrhundert.» Tom machte eine effektvolle Pause und fuhr dann fort: «Sie hieß Claire Haggerty. Und sie versicherte mir, dass
     sie mich liebte.»
    Das Mädchen stieß einen heiseren Seufzer aus, der sich anhörte, als ringe sie nach Luft. Tom schenkte ihr sein sanftestes
     Lächeln und sah, wie

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