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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Das kann ich dir nicht verübeln, aber ich wiederhole nur das, was du selbst mir gestern gesagt hast. Tu es,
     schreibe
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mir, mein Geliebter, schreibe mir, denn deine Briefe sind alles, was mir von dir bleibt.
    Ja, das ist die schlechte Nachricht: Ich werde dich nie wiedersehen, Derek . Unsere Liebe entsteht aus einer einzigen Begegnung, denn wir sehen uns nur ein einziges Mal. Na ja, eigentlich zweimal; aber
     das erste Mal – oder das letzte Mal, wenn wir der Chronologie folgen, die unsere Liebe überwinden wird – werden es nur wenige
     Minuten sein. Unsere zweite Begegnung, die in meiner Zeit stattfindet, wird länger und vor allem entscheidender sein, denn
     ihr entspringt das Feuer, das ewig in unseren Herzen brennen wird; ein Feuer, das diese Briefe für mich am Leben erhalten
     und für dich erst entzünden wird. Denn wenn wir uns der Chronologie unterwerfen, werde ich dich nicht mehr wiedersehen. Du
     hingegen wirst mich erst noch kennenlernen, obwohl wir uns erst vor wenigen Stunden geliebt haben. Jetzt verstehe ich auch
     deine Erregung während unserer Verabredung gestern im Teesalon: Ich selbst habe sie mit diesen meinen Worten hervorgerufen.
    Kennengelernt haben wir uns am 20.   Mai des Jahres 2000, aber die Einzelheiten dieser Begegnung werde ich dir erst in meinem letzten Brief berichten. Dieses Zusammentreffen
     war der Beginn von allem, obwohl ich, wenn ich jetzt darüber nachdenke, begreife , dass das auch nicht richtig ist, da du mich dann ja schon aus meinen Briefen kennen wirst. Wo beginnt die Geschichte unserer
     Liebe wirklich? Beginnt sie jetzt, mit diesem Brief? Nein , auch das ist nicht der Anfang. Wir sind in einem Kreis gefangen, Derek , und wer kann sagen, wo ein Kreis seinen Anfang nimmt? Wir können nur weitermachen, bis wir ihn vervollständigt haben, so
     wie ich es jetzt versuche, obwohl mir die Hand
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zittert. Das ist mein Teil, das Einzige, was ich tun kann, denn ich weiß ja schon, was du getan hast. Du wirst diesen Brief
     beantworten, wirst dich in mich verlieben, wirst mich suchen, wenn der Augenblick gekommen ist. Nur die jeweiligen Umstände
     werden neu für mich sein.
    Ich nehme an, ich kann diesen Brief nicht beenden, ohne dir zu sagen, wer ich bin, wie ich denke und wie ich die Welt sehe,
     denn als ich dich bei unserer Verabredung im Teesalon fragte, wie du mich lieben kannst, ohne mich zu kennen, hast du mir
     versichert, mich besser zu kennen, als ich glaubte. Und natürlich kanntest du mich aus meinen Briefen. Also : Geboren wurde ich am 14.   März 1875 im Londoner West End. Ich bin schlank, mittelgroß , habe blaue Augen und langes schwarzes Haar, das ich entgegen der Mode offen trage. Verzeih mir meine dürren Worte, aber mich
     selbst zu beschreiben kommt mir eitel vor. Außerdem ist mir wichtiger, dass du mein Denken und meine Seele kennst. Ich habe
     zwei Schwestern, Rebecca und Evelyn, die beide älter sind als ich. Beide sind verheiratet und wohnen in Chelsea. Indem ich
     mich mit ihnen vergleiche, kann ich dir am besten verständlich machen, wie ich bin. Im Gegensatz zu ihnen konnte ich mich
     nie mit der Zeit anfreunden, in der ich lebe. Ich habe das Gefühl, in einer unerträglich langweiligen Zeit zu leben, Derek . Wie soll ich es dir erklären? Ich habe das Gefühl, einer Komödie beizuwohnen, in der sich alle vor Vergnügen totlachen, während
     die mutmaßlichen Späße der Darsteller an mir abprallen und mich nicht im Geringsten berühren. Diese Unzufriedenheit hat mich
     zu einer problematischen jungen Frau gemacht, die man besser nicht auf Partys einlädt und bei Familienfesten unter Aufsicht
     hält, denn mehr als eines
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habe ich schon ruiniert, weil ich mich gegen die absurden Regeln aufgelehnt habe, die in der Gesellschaft gelten, in der ich
     lebe.
    Eine andere Sache, in der ich mich von den Mädchen meines Alters unterscheide, ist , dass ich mich überhaupt nicht fürs Heiraten interessiere. Die Rolle der Frau in der Ehe, die auch meine Mutter mir mit aller
     Macht anerziehen will, missfällt mir aufs äußerste. Nichts scheint mir meinem freien Geist weniger zuträglich zu sein. Ich
     will meinen Kindern nicht die moralischen Werte einbläuen, die man mir schon eingebläut hat, und die Arbeit der Dienstboten
     überwachen, während mein Gatte in der Arbeitswelt sein Glück zu machen sucht, dieser gefährlichen Welt, von der wir Frauen,
     weil wir als zerbrechlich und sensibel gelten, diskret ferngehalten werden. Wie du

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