Die Landkarte der Zeit
nicht an den Hunger zu denken. Wenn sie ihn
heute nicht umbrachten, würde er vor Einbruch der Nacht etwas zu essen stehlen müssen, um seinen protestierenden Magen zu
beruhigen. Wo blieben Murrays Totschläger denn bloß?, fragte er sich zum wiederholten Mal. Wo immer sie sein mochten, von
seinem Aussichtsplatz aus würde er sie jedenfalls herankommen sehen. Er würde sie mit seinem breitesten Lächeln empfangen,
sich das Hemd aufreißen und mit dem Finger auf sein Herz zeigen. «Vorwärts, tötet mich!», würde er sagen. «Ihr braucht keine
Angst zu haben, dass ich danach euch umbringe. Ich bin kein Held. Ich bin bloß Tom, der arme, erbärmliche Tom Blunt. Hier
könnt ihr mich verscharren, gleich neben meinem Freund John Peachey, auch so einem armen Teufel.»
Als sein Blick auf den Grabstein fiel, bemerkte Tom den Brief, der daneben unter einem Stein lag. Einige Sekunden lang glaubte
er, seine Phantasie spiele ihm einen Streich. Dann nahm er ihn neugierig an sich und stellte fest, dass er an Hauptmann Derek
Shackleton gerichtet war. Er hatte das befremdliche Gefühl, einen sich wiederholenden Traum zu erleben. Einige Sekunden lang
wusste er nicht, was er tun sollte, aber es gab natürlich nur eines zu |420| tun. Er fühlte sich schmutzig, als er den Brief öffnete, so als lese er die Korrespondenz einer fremden Person. Dann fiel
sein Blick auf die zierliche Schrift von Claire Haggerty. Er las den Brief langsam, rief sich die Bedeutung eines jeden Buchstabens
in Erinnerung, las ihn mit lauter Stimme, als wolle er den Eichhörnchen vom Leben der Menschen berichten. Der Brief lautete
wie folgt:
Von Claire Haggerty an Hauptmann Derek Shackleton
Mein geliebter Derek,
ich habe diesen Brief mindestens zehnmal anfangen müssen, um zu begreifen, dass es nur einen Anfang geben kann, nämlich den,
auf alle Umschweife zu verzichten und dir umstandslos zu sagen, was mein Herz mir befiehlt: Ich liebe dich, Derek . Ich liebe dich, wie ich noch nie einen Menschen geliebt habe. Ich liebe dich jetzt und bis in alle Ewigkeit. Meine Liebe
zu dir ist alles, was mich noch am Leben erhält.
Ich kann mir dein überraschtes Gesicht vorstellen, wenn du diesen Brief einer Unbekannten liest, weil das für mich ein bekanntes
Gefühl ist. Aber es stimmt, mein Geliebter; ich liebe dich. Genauer gesagt, wir lieben uns, denn obwohl dir das noch merkwürdiger
vorkommen wird, weil du nicht einmal weißt, wer ich bin, liebst auch du mich oder wirst mich innerhalb der nächsten Stunden
lieben, vielleicht auch schon in wenigen Minuten. Sosehr du dich auch weigern magst, sosehr dich dies alles erstaunt, wirst
du mich lieben. Du hast gar keine Wahl. Du wirst mich lieben, weil du mich bereits liebst.
Ich nehme mir die Freiheit, dir diese gefühlvollen Zeilen
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zu schreiben für das, was wir miteinander geteilt haben. Du musst wissen, dass ich immer noch die Wärme deiner Finger auf
meiner Haut spüre, dass meine Lippen immer noch nach dir schmecken, dass ich dich immer noch in mir spüre. Trotz meiner anfänglichen
Furcht, meiner Befangenheit eines dummen Mädchens bin ich jetzt überwältigt von der Liebe, die du mir prophezeit hast, oder
vielleicht von einer Liebe, die noch viel größer ist, einer Liebe, so groß, dass nichts ihr etwas anhaben kann.
Schüttle den Kopf, soviel du willst, während du versuchst, meine wahnsinnige Rede zu verstehen, aber die Erklärung ist ganz
einfach. Was für dich noch nicht geschehen ist, hat für mich schon stattgefunden. Dies ist eine der seltsamen Situationen,
die das Reisen durch die Zeit mit sich bringt. Davon weißt du doch, stimmt’s ? Wenn ich mich nicht irre, hast du diesen Brief soeben in der Nähe der großen Eiche gefunden, als du aus dem Zeitloch gekommen
bist. Deshalb dürfte es dir nicht schwerfallen, meinen Worten zu glauben. Ja , ich weiß, wo du auftauchen wirst und was du in meiner Zeit zu tun gedenkst; und dass ich das weiß, kann nur bedeuten, dass
ich die Wahrheit sage. Vertraue mir also vorbehaltlos. Und glaube mir vor allem, wenn ich dir sage, dass wir uns lieben. Du
solltest mich auch lieben und meinen Brief in diesem Gefühl der Liebe beantworten, bitte . Schreibe mir und hinterlasse den Brief bei deiner nächsten Reise am Grabstein von John Peachey. Auf diese Weise werden wir
miteinander in Verbindung bleiben, mein Geliebter, denn wir werden einander noch sechs weitere Briefe schreiben. Du hebst
die Augenbrauen?
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