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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Stellen Sie sich Kaninchen, Bären oder Schoßhündchen |416| vor, in die sie sich verwandeln, während der Abend in die Nacht übergeht und die Minuten sich unbekümmert vom Tun der Menschen
     zu Stunden häufen wie ein Schneeball, der einen Abhang hinunterrollt.
    Ich werde Sie nicht fragen, wie viele Tierchen Sie bis zu dem Augenblick identifiziert haben, in dem die Tür sich öffnet und
     Tom aus dem Zimmer tritt. Zufrieden grinsend stopfte er sich das Hemd in die Hose und setzte sich die Mütze auf. Unter dem
     Vorwand, zurück sein zu müssen, bevor der Zeittunnel sich schloss, hatte er sich sanft Claires Armen entwunden, die ihn zum
     Abschied so feierlich geküsst hatte wie eine Frau, die weiß, dass dies der letzte Kuss für immer ist. Und mit diesem Kuss
     auf den Lippen stieg Tom Blunt die Treppe hinunter und fragte sich, wie er sich wie der glücklichste Mensch auf Erden und
     zugleich wie der größte Schuft des Universums fühlen konnte.

|417| XXVIII
    Zwei Tage waren seit dem Treffen mit Claire vergangen, und zu seiner Überraschung war Tom immer noch am Leben. Niemand hatte
     ihm in den Kopf geschossen, während er sich erschrocken im Bett aufrichtete, niemand war ihm auf der Straße gefolgt, den richtigen
     Moment im Gewimmel abwartend, um ihm einen blutgierigen Dolch in die Rippen zu stoßen, niemand hatte versucht, ihn mit einer
     Kutsche zu überfahren oder vor einen Zug zu stoßen. Aus solch beängstigender Ereignislosigkeit konnte Tom nur schließen, dass
     entweder die unerträgliche Verzögerung seiner Ermordung als Folter eingesetzt wurde oder dass überhaupt niemand die Absicht
     hatte, ihn für das, was er getan hatte, zur Rechenschaft zu ziehen. Da die Anspannung kaum zu ertragen war, hatte er mehr
     als einmal im Begriff gestanden, Hand an sich selbst zu legen, sich mit irgendeinem scharfen Gegenstand die Kehle durchzuschneiden
     oder sich von einer Brücke in die Themse zu stürzen, was eher der Familientradition entsprach. Jeder Weg schien ihm recht,
     dieser Angst zu entfliehen, die sich nachts in seine Träume schlich und sie zu Albträumen machte, in denen Salomon durch die
     Straßen Londons stapfte, schließlich die Stiege der Pension heraufgeklettert kam und sein Zimmer suchte. Tom erwachte jedes
     Mal, wenn der Maschinenmensch die |418| Tür aufbrach, und glaubte dann einige wirre Minuten lang, dass er wirklich der tapfere Hauptmann Shackleton war, der sich
     im Jahr 1896 versteckte. Nichts konnte er tun, um diese Träume zu vertreiben. Er hatte versucht, einen kühlen Kopf zu bewahren
     und sich sogar darauf einzustellen, sein Schicksal mit ergebener Ruhe zu akzeptieren. Nein, er würde sich nicht selbst das
     Leben nehmen. Es war ehrenvoller, beim Sterben in die Augen seiner Mörder zu blicken, seien diese nun aus Fleisch und Blut
     oder Löcher in geschmiedetem Eisen.
    Da er überzeugt war, nicht mehr lange am Leben zu bleiben, hatte er es nicht für nötig gehalten, zur Arbeitssuche in den Hafen
     zu gehen, denn sterben konnte er ebenso gut mit leeren Taschen. So streunte er ziellos durch London wie ein Blatt, das vom
     Wind durch die Straßen getrieben wird. Wenn er in einen Park kam, legte er sich manchmal wie ein Bettler oder Betrunkener
     ins Gras und ließ sich das Zusammensein mit dem Mädchen noch einmal durch den Kopf gehen, erinnerte sich an ihre glühenden
     Zärtlichkeiten, ihre berauschenden Küsse, ihre aufrichtige, leidenschaftliche Hingabe. Dann sagte er sich wieder, dass es
     der Mühe wert gewesen war, dass er keinen Widerstand leisten würde, wenn sie kamen, um ihm das Leben zu nehmen, denn ein Teil
     von ihm betrachtete die Kugel, die ihn immer noch nicht erreicht hatte, als gerechte Strafe für sein niederträchtiges Tun.
    Am dritten Tag lenkte er seine Schritte zum Hügel von Harrow, den er stets aufsuchte, wenn er Ruhe zum Nachdenken brauchte.
     Das schien ihm der geeignete Ort, seine Mörder zu erwarten, während er versuchen wollte, sein verworrenes Leben in eine Ordnung
     zu bringen, ihm |419| einen Sinn zu geben, auch wenn er sich damit nur selbst etwas vormachte. Oben angelangt, setzte er sich in den Schatten der
     Eiche und atmete tief die reine Luft, während sein Blick gleichgültig über die Stadt ging. Von der Anhöhe aus gesehen, kam
     ihm die Hauptstadt des Empire stets enttäuschend vor, wie eine düstere Barkasse mit einem Mastwerk von spitzen Glockentürmen
     und qualmenden Fabrikschornsteinen. Den Atem langsam ausstoßend, versuchte er,

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