Die Landkarte der Zeit
außergewöhnlichen
Phantasie begabt war, alle im Wörterbuch stehenden Buchstaben locker zu handhaben wusste und es dem derzeit gefragtesten Schriftsteller
gleichtun konnte. Wells versuchte, die Ruhe zu bewahren, während sein Besucher schier rasend vor Zorn seine Einwände als wirklichkeitsfremd
bezeichnete. Als er ihn so hitzig gestikulieren sah, bereute er allmählich den eingeschlagenen Weg. Wenn er fortführe, den
Roman zu zerreißen, würde es noch viel unangenehmer werden, das war klar. Aber welche Wahl hatte er? Sollte er alles zurücknehmen,
was er bisher gesagt hatte, nur weil die Möglichkeit bestand, dass der Kerl ihm den Kopf abriss, wenn er sich weiter in seine
Wut hineinsteigerte?
Doch Wells hatte Glück; Gilliam schien sich plötzlich abzuregen. Er holte ein paarmal tief Luft, drehte den Kopf von einer
Seite zur anderen und entspannte die Hände auf den Armlehnen, versuchte wieder Haltung zu zeigen. Sein Ringen um Fassung kam
Wells wie eine Parodie auf die Verwandlung des Schauspielers Richard Mansfield vor, die dieser vor einiger Zeit in dem Stück
Dr. Jekyll und Mr. Hyde
auf beeindruckende Weise auf der Bühne vorgeführt hatte. Gilliam schien sich zu schämen, dass er die Nerven verloren hatte,
und Wells begriff, dass er es mit einem intelligenten Menschen zu tun hatte, der sich nur hin und wieder von seinem ungezügelten
Temperament, seiner feurigen Impulsivität mitreißen ließ, die er gewöhnlich unter Kontrolle |454| zu halten gelernt hatte, und darauf wahrscheinlich ebenfalls stolz war. Wells jedoch hatte ihn da getroffen, wo es wehtat,
in seiner Eitelkeit, und ihm gezeigt, dass es mit der Selbstkontrolle so weit nicht her war.
«Sie haben vielleicht das Glück gehabt, einen sympathischen Roman zu schreiben, der den Massengeschmack trifft», sagte Gilliam,
nachdem er sich beruhigt hatte, doch immer noch in angriffslustigem Ton. «Aber ganz offensichtlich sind Sie außerstande, das
Werk anderer zu beurteilen. Ich frage mich, ob nicht Neid der Grund dafür ist. Hat der König etwa Angst, der Hofnarr könnte
sich auf den Thron setzen und besser regieren als er?»
Wells musste innerlich lächeln. Nach dem gehässigen Zornesausbruch folgte nun die falsche Gelassenheit, der Strategiewechsel.
Er bezeichnete seinen Roman, den er vor wenigen Tagen noch in den höchsten Tönen gelobt hatte, als marginales Werk und Massenware,
und für seine Argumente fand er einen Grund jenseits aller literarischen Kriterien: den Neid. Nun, dachte Wells, immer noch
besser als dies cholerische Geschrei. Jetzt kamen sie zum verbalen Schlagabtausch, und das war aufregend, denn auf dem Gebiet
fühlte er sich ausgesprochen wohl.
«Sie sind vollkommen frei, über Ihre Arbeit zu denken wie Sie wollen, Mr. Murray», sagte er in ruhigem Ton. «Aber ich nehme doch an, dass Sie meine Meinung hören wollten, weil Sie mich für kompetent
genug halten, ihr Werk beurteilen zu können. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht das gesagt habe, was Sie hören wollten.
Ich bezweifle, dass irgendjemand an Ihrem Roman Vergnügen finden wird, und zwar aus den angegebenen Gründen, obwohl der Hauptgrund
immer noch die unglaubwürdige Vorgabe |455| ist. Kein Mensch wird die von Ihnen geschilderte Zukunft glauben.»
Gilliam legte den Kopf schief, als habe er nicht richtig gehört.
«Wollen Sie sagen, ich habe eine unwahrscheinliche Zukunft beschrieben?»
«Genau das sage ich», antwortete Wells ungerührt, «und zwar aus verschiedenen Gründen. Die Möglichkeit, dass unsere mechanischen
Spielzeuge, selbst die raffiniertesten, einmal zum Leben erweckt werden könnten, ist unvorstellbar, um nicht zu sagen lächerlich.
Ebenso unvorstellbar ist, dass im nächsten Jahrhundert ein Weltkrieg ausbrechen wird. Das wird nie geschehen. Dann gibt es
noch jede Menge Kleinigkeiten, die Sie nicht beachtet haben. So lassen Sie die Menschen des Jahres 2000 immer noch Öllampen
benutzen, obwohl doch sonnenklar ist, dass bis dahin die Elektrizität ihren Siegeszug angetreten haben wird. Auch die Phantasie
braucht Wahrscheinlichkeit, Mr. Murray. Nehmen wir meinen eigenen Roman als Beispiel. Um das Jahr 802701 zu beschreiben, habe ich nichts anderes getan, als
logisch gedacht: Die Aufspaltung der menschlichen Rasse in zwei gegnerische Arten, die Elois und die Morlocks, illustriert
eine der möglichen Folgen unserer starren kapitalistischen Gesellschaft. Der erlöschende Planet am Ende des
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