Die Landkarte der Zeit
Buches ist ebenfalls
eine konsequente Weiterführung dessen, was wir heute schon von Astronomen und Geologen in allen möglichen Zeitschriften lesen
können. Darauf beruht meine Spekulation, Mr. Murray. Kein Mensch wird sagen können, mein Jahr 802701 sei nicht plausibel. Ihre Vision hingegen stürzt durch die eigene
Schwerfälligkeit in sich zusammen.»
|456| Gilliam Murray schaute ihn eine ganze Weile schweigend an, dann sagte er:
«Vielleicht haben Sie recht, Mr. Wells, und mein Roman bedarf einer gründlichen Überarbeitung hinsichtlich seines Aufbaus und Stils. Es ist mein erster Versuch,
da kann man nicht gleich Großartiges erwarten. Ich kann allerdings nicht zulassen, dass Sie mein Jahr 2000 in Zweifel ziehen,
denn dann beurteilen Sie nicht mehr meine literarischen Fähigkeiten; dann beleidigen Sie meine Intelligenz. Meine Zukunft
kann so gut Wirklichkeit werden wie jede andere, geben Sie’s zu.»
«Erlauben Sie, dass ich das bezweifle», antwortete Wells kalt. Die Zeit der Nachsicht war für ihn jetzt vorbei.
Gilliam Murray rang mit einem neuen Wutanfall. Er wand sich in seinem Sessel, als litte er an inneren Zuckungen, doch bald
hatte er sich wieder gefangen und nahm eine entspannte, beinahe sogar freundliche Haltung ein. Er betrachtete Wells mit belustigter
Neugier, wie man ein exotisches Insekt betrachten mag, dann ließ er ein etwas zu lautes Lachen hören.
«Wissen Sie, was uns beide unterscheidet, Mr. Wells?»
Der Schriftsteller hielt eine Antwort für unnötig und zuckte nur die Achseln.
«Unsere Sichtweise», fuhr Gilliam fort, «die Art, wie wir die Dinge sehen. Sie sind ein Konformist, ich nicht. Sie begnügen
sich damit, Ihre Leser zu täuschen, indem Sie sich zum Komplizen machen. Sie schreiben Romane über Dinge, die passieren könnten,
und hoffen, dass man Ihnen glaubt, obwohl Ihnen immer bewusst ist, dass es sich um einen Roman handelt, eine Fiktion also.
Aber ich gebe mich damit nicht zufrieden, Mr. Wells. Ich nicht. Wenn ich |457| meinen Spekulationen die Form eines Romans gegeben habe, so war das rein umstandsbedingt, da man dazu nur einen Stapel Papier
und ein kräftiges Handgelenk braucht. Und wenn ich ehrlich sein soll, es interessiert mich herzlich wenig, ob er veröffentlicht
wird oder nicht. Ich werde mich kaum damit begnügen, dass eine Handvoll Leser darüber debattiert, ob die von mir beschriebene
Zukunft plausibel ist oder nicht. Nein, ich erstrebe sehr viel mehr; ich will nicht nur als phantasievoller Autor anerkannt
werden. Ich will die Menschen dazu bringen, an meine Erfindung zu glauben, ohne dass sie wissen, dass es eine Erfindung ist;
dass sie an die Wirklichkeit des Jahres 2000 glauben, so wie ich sie beschrieben habe. Ich werde Ihnen beweisen, dass ich
sie das glauben machen kann. Aber nicht in einem Roman; diese kindliche Trickserei überlasse ich Ihnen, Mr. Wells. Sie verlegen Ihre Phantasien in Bücher. Ich verlege sie in die Wirklichkeit.»
«In die Wirklichkeit?», fragte Wells, der nicht verstand, was sein Besucher meinte. «Was wollen Sie damit sagen?»
«Das werden Sie schon noch erfahren, Mr. Wells. Und wenn es so weit ist und Sie ein Gentleman sind, kommen Sie vielleicht und entschuldigen sich bei mir.»
Er erhob sich aus dem Sessel und strich seine Jacke mit dieser grazilen Bewegung glatt, die die Leute immer wieder in Staunen
versetzte.
«Einen schönen Abend, Mr. Wells. Und vergessen Sie mich und Hauptmann Shackleton nicht. Sie werden bald von uns hören.» Er nahm seinen Hut vom Tisch
und setzte ihn mit schwungvoller Geste auf. «Sie brauchen mich nicht zur Tür zu begleiten. Ich finde den Weg.»
Der Aufbruch kam so abrupt und unerwartet, dass Wells |458| immer noch verdutzt in seinem Sessel saß, als die Schritte seines Gastes schon verklangen und die Tür ins Schloss fiel. Er
blieb noch eine ganze Weile im Wohnzimmerchen sitzen und grübelte über Murrays Worte nach, doch schließlich sagte er sich,
dass dieser Egomane keines weiteren Gedankens wert war. Und da er in den folgenden Monaten nichts mehr von ihm hörte, vergaß
er die unangenehme Unterredung mit ihm irgendwann. Bis zu dem Tag, an dem ihm das erste Flugblatt von ZEITREISEN MURRAY ins
Haus flatterte. Da verstand er, was Gilliam mit seinem «Ich verlege meine Phantasie in die Wirklichkeit» hatte sagen wollen.
Und abgesehen von ein paar in den Zeitungen polternden Wissenschaftlern und Doktoren hatte ganz England die
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