Die Landkarte der Zeit
Planeten erforschten und was immer sich ihnen an wilden Eingeborenen in den Weg stellte, in Grund und Boden stampften.
Vor allem erinnerte sich Wells noch an einen jüdischen |448| Erfinder, der einen Apparat gebaut hatte, mit dem man alles vergrößern konnte. Das Bild eines von riesigen Kakerlaken angegriffenen
London, welches Henley ihm spöttisch beschrieb, hatte ihn wider Willen erschauern lassen.
Die Handlung von Gilliam Murrays Roman konnte einen ebenfalls erröten lassen. Hinter dem hochfahrenden Titel verbarg sich
die im Fieberwahn herbeiphantasierte Geschichte eines Irren. Gilliam behauptete, im Lauf der Jahre würden die mechanischen
Puppen, die man in einigen Spielzeugläden der Innenstadt kaufen konnte, ein eigenes Leben entwickeln. In den Holzköpfen würde
eine Art Bewusstsein erwachen, welches dem der Menschen erschreckend ähnlich war. Das ging so weit, wie der verblüffte Leser
bald feststellen konnte, dass die Automaten einen unüberwindlichen Hass auf die Menschen entwickelten, weil diese sie immer
wie Sklaven behandelt hatten. Schließlich beschlossen die Maschinenmenschen, angeführt von Salomon, einem mit Dampfkraft angetriebenen
Kampfroboter, die Menschheit zu vernichten und den ganzen Planeten zu beherrschen. In jahrelangen Kämpfen wurde die Erde zu
einem Trümmerfeld, und von den Menschen blieb eine verängstigte Schar, die sich wie Ratten in den Ruinen verkroch, unter der
jedoch ein Retter hervortrat, der tapfere Hauptmann Shackleton, der den grausamen Salomon schließlich in einem lächerlichen
Schwertkampf besiegte. Um das Delirium seines Romans noch zu steigern, hatte Gilliam auf den letzten Seiten eine Moral der
Geschichte zusammengefasst, die jeden Leser erröten lassen musste: Gott würde den Menschen unweigerlich bestrafen, wenn dieser
nicht aufhörte, selbst Leben herstellen zu wollen – |449| wenn man das Gezappel der mechanischen Puppen, dachte Wells, denn Leben nennen wollte.
Eine derartige Geschichte konnte vielleicht als Satire funktionieren, aber Gilliam nahm sie furchtbar ernst und gab ihr einen
feierlichen Ton, der die Lachhaftigkeit der Handlung vollends peinlich machte. Die Möglichkeit, dass das von Gilliam prophezeite
Jahr 2000 einmal Wirklichkeit würde, war vollkommen unwahrscheinlich. Außerdem war sein Schreibstil ebenso kindisch wie großsprecherisch,
die Charaktere blieben blass, und die Dialoge waren weder spritzig noch witzig. So einen Roman schrieb jemand, der glaubte,
Schriftsteller könne jeder werden. Nicht dass er einfach nur Wörter zu Sätzen aufhäufte und jeden Sinn für Ästhetik vermissen
ließ; das hätte die Lektüre zwar fade gemacht, aber man hätte sie verdauen können. Gilliam jedoch gehörte zu diesen unersättlichen
Lesern, die glaubten, gutes Schreiben sei so etwas, wie eine Hochzeitskutsche zu schmücken. Das Ergebnis war ein aufgeblasener
Ton voll blumiger Wendungen, grotesker Bilder und lächerlicher Wortspiele, die einem in der Kehle steckenblieben. Als Wells
auf der letzten Seite angekommen war, empfand er ästhetischen Brechreiz. Dieser Roman hatte nichts anderes als das Kaminfeuer
verdient. Sollten Zeitreisen einmal an der Tagesordnung sein, wäre es Pflicht, in die Vergangenheit zu reisen und diesem Möchtegernschreiber
sämtliche Finger zu brechen, bevor er die Literatur mit einem solchen Machwerk verunglimpfen konnte. Gilliam Murray dies ins
Gesicht zu sagen war allerdings etwas, wozu Wells keine große Lust verspürte, zumal er seine Hände in Unschuld waschen konnte,
indem er das Manuskript einfach |450| Henley übergab, damit der die Absage formulierte, was er mit Sicherheit tun würde.
Als der Tag der neuerlichen Begegnung mit Murray kam, wusste Wells noch immer nicht, wie er sich verhalten sollte. Gilliam
kam beneidenswert pünktlich und hatte sein sonnigstes Lächeln aufgesetzt, doch unter der triefenden Freundlichkeit erkannte
Wells einen Bodensatz mühsam unterdrückter Ungeduld. Offensichtlich konnte Gilliam es nicht abwarten, sein Urteil zu hören,
doch für ihn galt ebenso wie für Wells, sich ans Protokoll zu halten. Banalitäten austauschend, führte Wells ihn ins Wohnzimmer,
wo beide ihren jeweiligen Sessel in Beschlag nahmen, derweil Jane den Tee servierte. Der Schriftsteller genoss diesen Moment
und musterte seinen nervösen Gast, der tapfer sein Lächeln beibehielt. Ein unerwartetes Machtgefühl überflutete Wells. Mehr
als jeder andere wusste er,
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