Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
Planeten erforschten und was immer sich ihnen an wilden Eingeborenen in den Weg stellte, in Grund und Boden stampften.
     Vor allem erinnerte sich Wells noch an einen jüdischen |448| Erfinder, der einen Apparat gebaut hatte, mit dem man alles vergrößern konnte. Das Bild eines von riesigen Kakerlaken angegriffenen
     London, welches Henley ihm spöttisch beschrieb, hatte ihn wider Willen erschauern lassen.
    Die Handlung von Gilliam Murrays Roman konnte einen ebenfalls erröten lassen. Hinter dem hochfahrenden Titel verbarg sich
     die im Fieberwahn herbeiphantasierte Geschichte eines Irren. Gilliam behauptete, im Lauf der Jahre würden die mechanischen
     Puppen, die man in einigen Spielzeugläden der Innenstadt kaufen konnte, ein eigenes Leben entwickeln. In den Holzköpfen würde
     eine Art Bewusstsein erwachen, welches dem der Menschen erschreckend ähnlich war. Das ging so weit, wie der verblüffte Leser
     bald feststellen konnte, dass die Automaten einen unüberwindlichen Hass auf die Menschen entwickelten, weil diese sie immer
     wie Sklaven behandelt hatten. Schließlich beschlossen die Maschinenmenschen, angeführt von Salomon, einem mit Dampfkraft angetriebenen
     Kampfroboter, die Menschheit zu vernichten und den ganzen Planeten zu beherrschen. In jahrelangen Kämpfen wurde die Erde zu
     einem Trümmerfeld, und von den Menschen blieb eine verängstigte Schar, die sich wie Ratten in den Ruinen verkroch, unter der
     jedoch ein Retter hervortrat, der tapfere Hauptmann Shackleton, der den grausamen Salomon schließlich in einem lächerlichen
     Schwertkampf besiegte. Um das Delirium seines Romans noch zu steigern, hatte Gilliam auf den letzten Seiten eine Moral der
     Geschichte zusammengefasst, die jeden Leser erröten lassen musste: Gott würde den Menschen unweigerlich bestrafen, wenn dieser
     nicht aufhörte, selbst Leben herstellen zu wollen – |449| wenn man das Gezappel der mechanischen Puppen, dachte Wells, denn Leben nennen wollte.
    Eine derartige Geschichte konnte vielleicht als Satire funktionieren, aber Gilliam nahm sie furchtbar ernst und gab ihr einen
     feierlichen Ton, der die Lachhaftigkeit der Handlung vollends peinlich machte. Die Möglichkeit, dass das von Gilliam prophezeite
     Jahr 2000 einmal Wirklichkeit würde, war vollkommen unwahrscheinlich. Außerdem war sein Schreibstil ebenso kindisch wie großsprecherisch,
     die Charaktere blieben blass, und die Dialoge waren weder spritzig noch witzig. So einen Roman schrieb jemand, der glaubte,
     Schriftsteller könne jeder werden. Nicht dass er einfach nur Wörter zu Sätzen aufhäufte und jeden Sinn für Ästhetik vermissen
     ließ; das hätte die Lektüre zwar fade gemacht, aber man hätte sie verdauen können. Gilliam jedoch gehörte zu diesen unersättlichen
     Lesern, die glaubten, gutes Schreiben sei so etwas, wie eine Hochzeitskutsche zu schmücken. Das Ergebnis war ein aufgeblasener
     Ton voll blumiger Wendungen, grotesker Bilder und lächerlicher Wortspiele, die einem in der Kehle steckenblieben. Als Wells
     auf der letzten Seite angekommen war, empfand er ästhetischen Brechreiz. Dieser Roman hatte nichts anderes als das Kaminfeuer
     verdient. Sollten Zeitreisen einmal an der Tagesordnung sein, wäre es Pflicht, in die Vergangenheit zu reisen und diesem Möchtegernschreiber
     sämtliche Finger zu brechen, bevor er die Literatur mit einem solchen Machwerk verunglimpfen konnte. Gilliam Murray dies ins
     Gesicht zu sagen war allerdings etwas, wozu Wells keine große Lust verspürte, zumal er seine Hände in Unschuld waschen konnte,
     indem er das Manuskript einfach |450| Henley übergab, damit der die Absage formulierte, was er mit Sicherheit tun würde.
    Als der Tag der neuerlichen Begegnung mit Murray kam, wusste Wells noch immer nicht, wie er sich verhalten sollte. Gilliam
     kam beneidenswert pünktlich und hatte sein sonnigstes Lächeln aufgesetzt, doch unter der triefenden Freundlichkeit erkannte
     Wells einen Bodensatz mühsam unterdrückter Ungeduld. Offensichtlich konnte Gilliam es nicht abwarten, sein Urteil zu hören,
     doch für ihn galt ebenso wie für Wells, sich ans Protokoll zu halten. Banalitäten austauschend, führte Wells ihn ins Wohnzimmer,
     wo beide ihren jeweiligen Sessel in Beschlag nahmen, derweil Jane den Tee servierte. Der Schriftsteller genoss diesen Moment
     und musterte seinen nervösen Gast, der tapfer sein Lächeln beibehielt. Ein unerwartetes Machtgefühl überflutete Wells. Mehr
     als jeder andere wusste er,

Weitere Kostenlose Bücher