Die Landkarte der Zeit
mit den Worten: Ich liebe dich; genau wie du es dir erbeten hast. Ich muss allerdings gestehen, dass ich dazu mehrere
Blätter gebraucht habe, auf denen ich dir zu erklären versuchte, dass du mich in deinem Brief um nichts Geringeres als um
einen Glaubensakt gebeten hast. Wie kann ich mich in Sie verlieben, Miss Haggerty, wenn ich Sie noch nie gesehen habe? – schrieb
ich, weil ich es noch nicht wagte, dich so vertraut anzusprechen, wie der Augenblick es verlangte. Doch meinem verständlichen
Argwohn zum Trotz musste ich das Offensichtliche anerkennen: Du
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behauptetest, ich hätte mich bereits in dich verliebt. Wie konnte ich an deinen Worten zweifeln, da ich tatsächlich deinen
Brief neben der großen Eiche gefunden habe, als ich aus dem Zeittunnel des Jahres 2000 trat. Weiterer Beweise bedarf es nicht,
wie du ganz recht bemerkst, um mir klarzumachen, dass alles, was du mir erzählst, der Wahrheit entspricht, sowohl dass wir
uns in sieben Monaten erst kennenlernen werden als auch dass daraus unsere große Liebe entsteht. Wenn sich also mein zukünftiges
Ich – und ich bleibe ja, wer ich bin – auf den ersten Blick in dich verliebt, warum sollte ich es dann jetzt nicht tun? Das
hieße ja meinem eigenen Urteil misstrauen. Daher will ich keine Zeit verlieren, indem ich auf Gefühle warte, die sich im Laufe
der Zeit ohnehin einstellen werden.
Auf der anderen Seite bittest du mich ja nur um den Vertrauensbeweis, den du selbst auch hast erbringen müssen. Bei dieser
Verabredung im Teesalon, die du erwähnst, warst du es ja, die mir glauben musste, dass du dich in den Mann verlieben würdest,
der dir gegenübersaß. Und du hast mir geglaubt. Mein zukünftiges Ich dankt dir dafür, Claire. Und das Ich, das diese Zeilen
schreibt und den Geschmack deiner Haut noch nicht kennt, kann nur dein Vertrauen erwidern, glauben , dass deine Worte wahr sind, dass alles, was du in deinem Brief beschreibst, passieren wird, weil es gewissermaßen ja schon
geschehen ist. Ich kann dir also nur sagen: Ich liebe dich, Claire Haggerty, wer immer du bist. Ich liebe dich von jetzt an
und für alle Zeit.
Toms Hand zitterte, als er die Worte des Schriftstellers las. Wells hatte seinen Auftrag ernst genommen. Er hatte sich |463| nicht nur an Toms improvisierte Geschichte gehalten, sondern schien mindestens so verliebt in das Mädchen zu sein wie dieses
in ihn, das heißt Tom oder, um ganz genau zu sein, in den tapferen Hauptmann Shackleton. Er wusste ja, dass der Schriftsteller
nur so tat als ob, und dennoch überstieg dessen Lüge um Längen seine eigenen erbärmlichen Empfindungen, die eigentlich viel
mächtiger sein mussten, da ja er und nicht Wells mit Claire geschlafen hatte. Hatte sich Tom tags zuvor noch gefragt, ob es
wirklich Liebe war, die da in seiner Brust schlug, so hatte er jetzt die Antwort, hatte etwas, das er als Messlatte nehmen
konnte: die Worte des Schriftstellers. Fühlte Tom, was in Wells’ Worten Hauptmann Shackleton fühlte? Wenn er länger darüber
nachdachte, konnte es nur eine Antwort auf diese unglückliche Frage geben: Nein, er fühlte nicht dasselbe. Er könnte auf diese
Weise niemals einen Menschen lieben, den er nie wiedersehen würde.
Er legte den Brief unter John Peacheys Grabstein und ging querfeldein nach London zurück, zufrieden, wenngleich nicht besonders
glücklich über die Bitte, die Wells am Ende des Briefes formuliert hatte und die ihm eher eines Perversen würdig schien. Voller
Unbehagen las er im Geiste noch einmal den letzten Absatz:
Wie nie zuvor wünschte ich, die Zeit würde schneller vergehen, die sieben Monate bis zu unserer ersten Begegnung nur ein Atemzug
sein. Ich muss allerdings gestehen, dass ich nicht nur neugierig bin, dich kennenzulernen, sondern auch darauf, wie du es
anstellen wirst, in meine Zeit zu reisen. Kannst du das tatsächlich tun? Ich für meinen Teil kann ja nur warten und bis dahin
deine Briefe beantworten, meinen
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Teil dazu beitragen, dass der Kreis sich endlich schließt. Ich hoffe nur, dass mein Brief dich nicht enttäuscht. Morgen lege
ich ihn an der Eiche ab, wenn ich in deine Zeit reise. Zwei Tage später werde ich schon wiederkommen und weiß, dass dann ein
Brief von dir auf mich wartet. Es mag ein bisschen gewagt klingen, meine geliebte Claire, aber dürfte ich dich bitten, mir
darin von unserer Liebesbegegnung zu erzählen? Für mich sind es noch Monate bis dahin, und obwohl ich
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