Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
«unglaubwürdige»
     Erfindung geglaubt, was zu einem Teil daran lag, dass mit dem Erscheinen der
Zeitmaschine
die Erwartung, in die Zukunft reisen zu können, noch gefördert worden war. Eine Ironie, die Wells umso mehr ärgerte.
    Seither bekam er jede Woche ein Flugblatt zugestellt, verbunden mit der Einladung, an einer jener falschen Reisen ins Jahr
     2000 teilzunehmen. Nichts hätte dem alten Halunken besser gefallen, als wenn Wells seinem verlogenen Unternehmen durch persönliches
     Erscheinen die höchste Weihe gegeben hätte, was er natürlich keinesfalls zu tun beabsichtigte. Beunruhigender war jedoch das,
     was hinter diesen Einladungen stand. Wells wusste, dass Gilliam nie im Leben damit rechnete, dass er sein Angebot annehmen
     würde. Das machte die Einladungen zu einem Hohn, einem Gelächter aus Papier, aber auch zu einer Drohung, denn die Tatsache,
     dass die Flugblätter jedes Mal unfrankiert in seinem Briefkasten lagen, bedeutete, dass |459| Gilliam Murray sie persönlich dort hineingeworfen oder einen seiner Männer damit beauftragt hatte. Die Absicht war klar: Wells
     sollte wissen, dass sie sich ungesehen seinem Haus nähern konnten, dass man ihn nicht vergessen hatte, dass er beobachtet
     wurde.
    Am meisten fuchste Wells jedoch, dass er Gilliam nicht bloßstellen konnte, wie Tom Blunt vorgeschlagen hatte. Und er konnte
     es nicht, weil Gilliam gewonnen hatte. Ja, der Unternehmer hatte bewiesen, dass seine Zukunft glaubhaft war, und er, Wells,
     musste die Niederlage sportlich nehmen, obwohl er am liebsten die Schachfiguren wütend vom Brett gefegt hätte. Als rechtschaffener
     Mensch konnte er jedoch nur untätig dasitzen und zusehen, wie Gilliam reich wurde. Der Unternehmer indes schien die Situation
     ungemein zu genießen, denn mit den Flugblättern, die er ihm regelmäßig zukommen ließ, erinnerte er ihn nicht nur immer wieder
     daran, dass er gewonnen hatte, sondern forderte ihn auch jedes Mal aufs Neue heraus, sein Lügengebäude zum Einsturz zu bringen.
    «Ich verlege meine Phantasie in die Wirklichkeit», hatte er gesagt. Und so unglaublich es schien, er hatte es geschafft.

|460| XXXI
    An diesem Nachmittag unternahm Wells eine längere Fahrradtour als gewöhnlich und ohne dass Jane ihn begleitete. Er wolle nachdenken,
     während er in die Pedale trat, sagte er ihr. Er hatte seine geliebte Norfolk-Jacke mit Gürtel angezogen und radelte nun gemächlich
     über die stillen Nebenstraßen der Grafschaft Surrey, wobei seine Gedanken um den Brief kreisten, den er dieser einfältigen
     jungen Dame namens Claire Haggerty zu schreiben hatte. Der gesamte Briefwechsel bestand, wie Tom berichtet hatte, aus sieben
     Briefen, von denen er drei und Claire vier schreiben würde und in deren letztem sie den Hauptmann bäte, durch die Zeit zu
     reisen und ihr den Sonnenschirm zurückzubringen. Ihm stand also frei, zu schreiben, was er wollte, wenn er sich nur an die
     von Tom vorgegebene Linie hielt. Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr faszinierte ihn die Geschichte, die dieser
     halbe Analphabet sich spontan aus den Fingern gesogen hatte. Sie war verführerisch, bezaubernd und vor allem glaubwürdig,
     unter der Voraussetzung natürlich, dass es eine Maschine gab, die Löcher in die Zeit bohren und Tunnel zwischen zwei Epochen
     herstellen konnte. Unter dieser Voraussetzung wurde auch die von Murray ersonnene Zukunft wahrscheinlich. Und das gefiel ihm
     am wenigsten an der |461| ganzen Sache; dass Gilliam Murray darin verwickelt war, wie er es auch bei der Rettung des unglücklichen Andrew Harrington
     gewesen war. Welch eine Ironie, dass er jetzt in die Haut des Hauptmanns Derek Shackleton schlüpfte, einer Figur, die sein
     Widersacher erfunden hatte! Würde am Ende er es sein, der dieser hohlen Gestalt wie der Gott des Alten Testaments Leben einhauchte?
    Er beendete seine Fahrradtour zufrieden und angenehm erschöpft, mit einer ungefähren Idee schon, wie er den ersten Brief zu
     schreiben hätte. Mit der Sorgfalt eines Chirurgen legte er einen Stoß Papier und eine Schreibfeder auf den Küchentisch und
     stellte ein Tintenfass daneben, dann bat er Jane, ihn in der nächsten Stunde ungestört zu lassen. Er setzte sich an den Tisch,
     atmete einmal tief durch und begann dann, den ersten Liebesbrief seines Lebens zu schreiben:
     
    Geliebte Claire,
     
    auch ich habe mehrere Anläufe für diesen Brief nehmen müssen, um zu erkennen, dass ich ihn ebenfalls nicht anders beginnen
     kann als

Weitere Kostenlose Bücher