Die Landkarte der Zeit
welche Illusionen mit der Beendigung eines Romans einhergingen und wie wenig diese Illusionen
für alle anderen zählten, die die Arbeit einzig nach dem Erfolg bewerteten und nicht nach den schlaflosen Nächten, die dafür
geopfert worden waren. Ein negatives Urteil, so konstruktiv es formuliert sein mochte, würde für einen Schriftsteller immer
schmerzlich sein. Es würde ihn immer treffen, egal, ob er mit dem Mut eines verwundeten Soldaten darauf reagierte oder ob
es sein zartes Ego zerbrach und ihn in den Abgrund stürzte. Die Frage war, ob er seine Macht zu Gilliams Wohl oder Wehe nutzen
wollte, ob er sehen wollte, wie dieser arrogante Kerl auf das reagierte, was nichts als die reine Wahrheit war, oder ob er
ihm eine gnädige Lüge auftischen und – zumindest bis zu Henleys Diagnose – in dem Glauben lassen sollte, ein würdiges Werk
verfasst zu haben.
|451| «Nun, Mr. Wells», fragte Gilliam, sobald Jane das Zimmer verlassen hatte, «wie hat Ihnen mein Roman gefallen?»
Wells hatte das Gefühl, als hätte die Luft im Zimmer zu vibrieren begonnen, als wäre die Wirklichkeit an einen Kreuzweg gelangt,
als warte das Universum auf seinen Richtspruch, um zu erfahren, wie es weitergehen sollte. Es war, als wäre sein Schweigen
ein Stausee, ein Deich, der den Lauf der Dinge aufhielt.
Selbst heute wusste er noch nicht, warum es ihn zu dieser Entscheidung getrieben hatte. Er hätte genauso gut eine andere treffen
können. Nur eines stand fest: Er hatte es nicht aus Bösartigkeit getan, sondern allein aus der Neugier, zu beobachten, wie
Gilliam Murray einen solchen Tiefschlag wegsteckte; ob er seine Meinung höflich akzeptieren würde und seinen verletzten Stolz
zu verbergen wüsste, ob er wie ein Kind zusammenbrechen oder so wütend werden würde, dass er sich auf ihn stürzen und mit
seinen riesigen Pranken zu erwürgen versuchen würde.
Nachdem er sich entschieden hatte, räusperte er sich und antwortete höflich, in sachlichem Ton, als ahne er gar nicht, welche
Wirkung seine Worte hervorrufen könnten:
«Ich habe Ihr Werk sehr aufmerksam gelesen, Mr. Murray, und ich muss sagen, dass es eine keineswegs vergnügliche Lektüre war. Ich habe nichts darin gefunden, was ich loben,
wozu ich Ihnen gratulieren könnte. Ich nehme mir die Freiheit, so offen zu Ihnen zu sprechen, weil ich Sie als Kollegen betrachte
und glaube, dass Lügen meinerseits Ihnen nicht weiterhelfen würden.»
Gilliam fiel das Lächeln aus dem Gesicht, und seine Pranken umklammerten die Sessellehnen. Wells nahm den |452| Wechsel des Mienenspiels wahr und fuhr fort, seinen Besucher aufs höflichste herunterzuputzen:
«Meiner Meinung nach gehen Sie nicht nur von einem reichlich naiven Grundgedanken aus, sondern Sie entwickeln diesen auch
noch in einer extrem unglücklichen Weise. Die Komposition Ihres Werkes ist chaotisch und willkürlich, die einzelnen Szenen
sind liederlich beschrieben, und man hat den Eindruck, die Dinge passieren ohne jede erzählerische Logik, nur weil es Ihnen
so gefällt. Das alles ruft beim Leser ein unüberwindliches Desinteresse hervor, wenn nicht sogar eine tiefe Ablehnung dessen,
was er liest.»
An diesem Punkt machte Wells eine Pause, um seinen verstummten Gast mit der Neugier eines Insektenforschers zu betrachten.
Man müsste aus Eis sein, um angesichts solcher Einschätzung nicht zu explodieren, sagte er sich. War Gilliam Murray aus Eis?
Er sah, wie dieser sich mühte, seine Fassung zu bewahren, wie er sich auf die Lippen biss und die Hände zu Fäusten ballte
und wieder öffnete, und kam zu dem Schluss, dass er es bald wissen würde.
«Wovon reden Sie eigentlich?», rief Murray schließlich voller Empörung und richtete sich im Sessel auf. Die Adern an seinem
Hals waren vor Zorn geschwollen. «Welcher Art von Lektüre haben Sie meinem Werk da angedeihen lassen?»
Nein, Gilliam war nicht aus Eis. Er war loderndes Feuer, und Wells begriff sogleich, dass dieser Mann nicht zusammenbrechen
würde. Sein Besucher gehörte zu den Menschen, die einen krankhaften Stolz besitzen, der sie auf Dauer moralisch unangreifbar
macht, die so von sich überzeugt sind, dass sie glauben, alles könne ihnen gelingen, |453| ganz egal, ob es darum ging, einen Vogelkäfig zu bauen oder einen dieser modischen Zukunftsromane zu verfassen. Dummerweise
hatte sich Gilliam entschlossen, nicht einen Vogelkäfig zu bauen, sondern der Welt zu zeigen, dass er mit einer
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