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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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genau
     wusste, auf welche Weise sie die Freuden des Fleisches genoss. Und noch weniger konnte er ihr sagen, dass das alles nur eine
     einzige Farce war; dass diese Liebe nur in ihrem |483| Kopf existierte, dass es weder Zeitreisen noch einen Hauptmann Shackleton gab, der im Jahr 2000 einen Krieg gegen die Maschinenmenschen
     gewann. Denn wenn er ihr gesagt hätte, dass dies alles eine ausgemachte Lüge war, der sie ihr Leben opferte, hätte er ihr
     ebenso gut eine Pistole in die Hand geben und ihr sagen können, sie solle sich eine Kugel ins Herz schießen. Da bemerkte er,
     dass sie ihn neugierig musterte, als ob er ihr bekannt vorkäme. Aus Angst, erkannt zu werden, tippte Wells mit der Hand an
     den Hut, verabschiedete sich mit einer Verbeugung und setzte seinen Spaziergang fort, wobei er sich bemühte, nicht allzu schnell
     auszuschreiten. Claire schaute ihm nachdenklich nach, dann zuckte sie die Achseln und ging ins Haus zurück.
    Auf der anderen Straßenseite beobachtete Tom Blunt, hinter einer Mauer verborgen, wie sie im Haus verschwand. Kopfschüttelnd
     trat er aus seinem Versteck hervor. Wells hier auftauchen zu sehen hatte ihn überrascht, wenngleich nicht übermäßig. Auch
     den Schriftsteller hätte es nicht allzu sehr gewundert, Tom dort anzutreffen. Offenbar hatte keiner von beiden der Versuchung
     widerstehen können, sich zum Haus des Mädchens zu begeben, dessen Adresse sie in der Hoffnung preisgegeben hatte, Shackleton
     könne zurückkehren und sie aufsuchen wollen.
    Tom wusste nicht, was er von Wells halten sollte, und kehrte zu seiner Absteige in der Buckeridge Street zurück. Hatte sich
     der Schriftsteller in das Mädchen verliebt? Das konnte er sich nicht vorstellen. Er würde sich aus reiner Neugier das Haus
     angesehen haben. Würde er an Wells’ Stelle nicht ebenfalls versuchen, dem Mädchen, dem er Dinge schrieb, die er wahrscheinlich
     nicht einmal zu der |484| eigenen Ehefrau sagte, ein Gesicht zu geben? Er fühlte sich unendlich müde und warf sich aufs Bett, doch seine Nerven und
     der Zustand permanenter Anspannung, in dem er sich in letzter Zeit befand, ließen ihn nur wenige Stunden Schlaf finden. Noch
     bevor der Morgen graute, war er wieder auf den Beinen und machte sich auf den Weg zum Haus des Schriftstellers. Diese Wanderungen
     hielten ihn besser in Form als das Training, das Murray sich für ihn ausgedacht hatte. Dessen gedungener Mörder hatte sich
     nicht wieder blicken lassen, doch Tom hatte nicht vor, deswegen weniger wachsam zu sein.
    Wells erwartete ihn auf den Treppenstufen vor der Haustür sitzend. Er schien auch keinen guten Schlaf gehabt zu haben. Er
     sah grau und hohläugig aus, mit einem seltsamen Glanz in den Augen. Vielleicht hatte er gar nicht geschlafen und die ganze
     Nacht an dem Brief geschrieben, den er in der Hand hielt. Als er Tom erblickte, grüßte er ihn mit einem kurzen Kopfnicken
     und übergab ihm den Brief, ohne ihn anzusehen. Tom nahm ihn, und da er ebenfalls keine Lust verspürte, das bedrückende Schweigen
     zu brechen, drehte er sich um und ging, woher er gekommen war. Da vernahm er Wells’ Stimme hinter sich:
    «Bringst du mir ihren Brief, auch wenn ich ihn nicht mehr beantworten muss?»
    Tom wandte sich um und schaute ihn mitleidig an und wusste nicht einmal genau, ob er dieses Mitleid für ihn, für sich selbst
     oder gar für Claire empfand. Schließlich nickte er mit düsterer Miene, dann ging er davon. Erst als er schon ein ganzes Stück
     gegangen war, öffnete er den Brief und begann darin zu lesen.
     
    |485|
Meine geliebte Claire,
     
    es gibt keine Narzissen mehr auf dieser Welt. Es gibt überhaupt keine Blumen mehr, und trotzdem war ich beim Lesen deines
     Briefes sicher, ihren Duft zu riechen. Ja , ich kann mich an deiner Seite in dem Garten sehen, von dem du erzählst und den ich mir liebevoll gepflegt vorstelle, vielleicht
     mit einem plätschernden Brunnen irgendwo. Dank dir, meine Geliebte, kann ich sie hier riechen, am anderen Ufer der Zeit.
     
    Niedergeschlagen schüttelte Tom den Kopf, als er sich vorstellte, wie diese Worte das Mädchen aufwühlen würden, und wieder
     empfand er Mitleid mit ihr, noch mehr jedoch einen schrecklichen Ekel vor sich selbst. Eine solche Täuschung hatte Claire
     nicht verdient. Es stimmte zwar, dass diese Briefe ihr das Leben retteten, doch im Grunde behoben sie nur den Schaden, den
     er durch sein selbstsüchtiges Verhalten angerichtet hatte. Er konnte sich nicht dazu

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