Die Landkarte der Zeit
den Mond, der bleich und rund am Himmel stand. Zu dem Gefühl der Unbedeutendheit,
welches ihn stets unter freiem Himmel befiel, gesellte sich jetzt noch das der Unbeholfenheit angesichts des spontanen und
unkomplizierten Umgangs anderer, in diesem Fall Claire Haggertys, mit der Welt. Er blieb so lange im Garten, bis er den Moment
für gekommen hielt, die Wirkung des Briefes auf seine Gattin zu überprüfen.
Er ging ohne Hast ins Haus, und als er Jane weder im Wohnzimmer noch in der Küche fand, stieg er die Treppe |475| zum Schlafzimmer hinauf. Jane stand am Fenster. Das Licht des vollen Mondes ergoss sich über ihren sich vollkommen nackt ihm
darbietenden Körper. Zwischen Verblüffung und Wollust betrachtete Wells ihre Rundungen und Proportionen, die geschmeidige
Weichheit, mit der sich diese Bestandteile einer Frau, die er immer nur jedes für sich unter dem Bettlaken hatte erahnen können,
jetzt zu einer ganzheitlichen Körperlandschaft fügten und ihm ein freies, ätherisches Wesen zeigten, das sich jeden Moment
in die Luft erheben und fliegen zu können schien. Er bewunderte die schwebende Zwanglosigkeit ihrer Brüste, die schmerzlich
schlanke Taille, die geruhsame Rundung der Hüften, die Nachtwolle ihres Schamhügels und die an kleine Tiere erinnernden Füßchen,
während Jane ihn anlächelte und es sichtlich genoss, von ihrem überraschten Mann mit großen Augen gemustert zu werden. Da
wusste Wells, was er zu tun hatte. Als folge er den Anweisungen eines unsichtbaren Souffleurs, riss er sich die Kleider vom
Leib und ließ seinen schmächtigen nackten Körper ebenfalls vom Mondlicht umbranden. Dann umarmten sich Mann und Frau mitten
im Schlafzimmer, genossen die Berührungen ihrer Haut, wie sie es nie zuvor getan hatten. Auch die nachfolgenden Empfindungen
kamen ihm mit Claires Worten im Gedächtnis viel großartiger vor und stürzten ihn in einen Taumel aus Berührungen und Erkundungen,
die über den umzäunten Garten ihrer bisherigen Lust weit hinausgingen.
Später, als Jane schon schlief, stahl sich Wells aus dem Bett und schlich in die Küche, nahm Feder und Papier und begann,
von unbändiger Euphorie beseelt, zu schreiben:
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Geliebte,
wie sehne ich den Tag herbei, an dem ich endlich all das empfinden kann, was du mir beschrieben hast. Ich kann dir nur sagen,
dass ich dich auf diese Weise liebe und immer lieben werde. Ich werde dich zärtlich küssen, dich langsam und behutsam streicheln,
mit der größten Vorsicht zu dir kommen, und meine Lust wird sich verdoppeln, Claire , weil ich weiß, dass du dasselbe empfindest wie ich.
Voller Eifersucht las Tom die glühenden Worte des Schriftstellers. Er schrieb in seinem Namen, klar; trotzdem konnte sich
Tom des Gefühls nicht erwehren, dass diese Worte von ihnen beiden sein konnten. Wells kostete die Situation offensichtlich
aus. Was würde seine Frau wohl davon halten? Tom faltete den Brief, steckte ihn in den Umschlag und legte diesen unter den
Grabstein des mysteriösen Peachey. Auf dem Rückweg dachte er immer wieder über die Worte des Schriftstellers nach und fühlte
sich unwillkürlich aus dem Spiel gedrängt, das er selbst sich ausgedacht hatte, herabgestuft zu einem gewöhnlichen Botengänger.
Ich liebe dich, Claire , ich liebe dich. Nur ein Schritt noch, und ich sehe dich. Und zu wissen, dass wir diesen grausamen Krieg gewinnen werden,
macht mein Glück doppelt groß. Salomon und ich in einem Schwertkampf? Bis vor einigen Tagen hätte ich noch an deinem Verstand
gezweifelt, meine Geliebte, denn nie hätte ich mir vorstellen können, dass wir unseren Zwist mit einer so prähistorischen
Waffe austragen werden. Doch als wir heute Morgen durch die Ruinen des Historischen Museums streiften, fand einer
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meiner Männer ein Schwert. Er fand, dass diese edle Waffe eines Hauptmanns würdig sei, und überreichte sie mir so feierlich,
als befolge er damit eine Anweisung von dir. Jetzt weiß ich, dass ich viel mit dem Schwert werde trainieren müssen, um für
den kommenden Kampf gerüstet zu sein. Aber ich werde siegen, weil die Gewissheit, dass deine herrlichen Augen auf mich gerichtet
sein werden, mir Kraft geben wird.
Mit all meiner Liebe aus der Zukunft,
D.
Claire fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie warf sich aufs Bett und ging jeder einzelnen der zahllosen Empfindungen nach,
die, ausgelöst durch die Worte des tapferen Hauptmanns Shackleton, ihr Herz
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