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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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beglückwünschen, sie vor dem Selbstmord
     gerettet zu haben, und die Angelegenheit damit vergessen. Er konnte nicht zulassen, dass Claire ihr Leben wegen einer Lüge
     ruinierte, einer Chimäre wegen bereit war, sich lebendig zu begraben. Auf seinem Gang zur Anhöhe gelangte er zu der Einsicht,
     dass er sein Gewissen nur würde beruhigen können, indem er die Liebe, für die sie sich aufzuopfern bereit war, Wirklichkeit
     werden ließ. Er würde dafür sorgen, dass Shackleton aus dem fernen Jahr 2000 noch einmal zurückkehrte und dabei für sie sein
     Leben aufs Spiel setzte, so wie Claire es sich ersehnte. Das war das Einzige, womit er seinen Fehler wiedergutmachen |486| konnte. Es war aber auch das Einzige, was er nicht tun konnte.
    Tom dachte immer noch darüber nach, als er zu seiner großen Überraschung Claire unter der Eiche erblickte. Trotz der Entfernung
     erkannte er sie sofort. Er blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. So unglaublich es ihm erschien,
     Claire stand unter dem Baum, den Sonnenschirm aufgespannt, den er ihr durch die Zeit zurückgebracht hatte. Am Fuß des Hügels
     sah er eine Kutsche, auf dem Bock saß dösend der Kutscher. Rasch versteckte er sich hinter einem Strauch, bevor einer von
     den beiden merkte, dass sie nicht allein in der Gegend waren. Was machte Claire dort?, fragte er sich. Doch die Antwort war
     offensichtlich: Sie wartete auf ihn. Ja, Claire wartete auf ihn beziehungsweise darauf, dass Hauptmann Shackleton dort aus
     dem Zeittunnel auftauchte. Sie hatte seine Abwesenheit nicht länger ertragen und offenbar beschlossen, sich dem Schicksal
     entgegenzustellen. Und das erreichte sie am einfachsten, indem sie den Ort aufsuchte, an dem der Hauptmann ihren Brief an
     sich nehmen würde. Die Verzweiflung hatte Claire zu einem Zug außerhalb des Spielfelds veranlasst. In seinem Versteck verfluchte
     sich Tom, weil er an diese Möglichkeit nicht gedacht hatte, zumal ihm Claire nie einen Beweis ihrer Intelligenz und Kühnheit
     schuldig geblieben war.
    Fast den ganzen Vormittag verharrte er in seinem Versteck und beobachtete betrübt, wie sie unter dem Baum hin und her ging,
     des Wartens schließlich müde wurde, die Kutsche bestieg und wieder nach London fuhr. Tom sprang aus seinem Versteck hervor,
     legte den Brief unter |487| den Grabstein und kehrte ebenfalls in die Stadt zurück. Unterwegs dachte er an die mutlosen Worte, mit denen Wells seinen
     letzten Brief beendet hatte.
     
    Unendliche Trauer überkommt mich, wenn ich daran denke, dass dies der letzte Brief ist, den ich dir schreibe, meine Geliebte.
     Du selbst hast es mir gesagt, deshalb glaube ich dir auch dies. Wie gern würde ich dir immer weiter schreiben, bis wir uns
     im Mai zum ersten Mal sehen. Doch wenn ich eines bisher gelernt habe, dann , dass die Zukunft geschrieben steht und dass du sie gelesen hast. Daher nehme ich an, dass etwas passieren wird, was mich
     daran hindert, dir weitere Briefe zu schreiben; wahrscheinlich wird es das Verbot zur Benutzung der Zeitmaschine sein und
     die Entbindung von meiner Mission, die ergebnislos verlaufen ist. In mir toben widerstreitende Gefühle, wie du dir vorstellen
     kannst: Einerseits freue ich mich, dass dies kein endgültiger Abschied für mich ist und ich dich schon bald sehen werde; andererseits
     zerreißt es mir das Herz, wenn ich daran denke, dass du nie wieder von mir hören wirst. Das heißt aber nicht, dass meine Liebe
     aufhört. Sie bleibt lebendig, das verspreche ich dir, denn wenn ich eines sicher weiß, dann dass ich dich immer lieben werde,
     Claire. Meine Liebe wird weiter blühen in einer Welt ohne Blumen.
     
    D.
     
    Die Tränen liefen über Claires Wangen, als sie sich an ihren Schreibsekretär setzte und mit einem tiefen Seufzer die Feder
     ins Tintenfass tauchte.
     
    |488|
Dies ist auch mein letzter Brief, geliebter Derek, und so gern ich ihn damit beginnen würde, dir zu sagen, wie sehr ich dich
     liebe, muss ich aufrichtig mit mir selbst sein und dir beschämt gestehen, dass ich vor zwei Tagen etwas sehr Gewagtes getan
     habe. Ja , Derek , anscheinend bin ich doch nicht so stark, wie ich gedacht habe, denn ich bin zu der Eiche auf dem Hügel gegangen, um dort
     auf dein Erscheinen zu warten. Deine Abwesenheit habe ich einfach nicht mehr ausgehalten. Ich musste dich sehen, auch wenn
     dadurch das Zeitgefüge durcheinandergebracht würde. Aber du bist den ganzen Vormittag über nicht aufgetaucht, und länger konnte
    

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