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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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Kreis. Das ist meine Hoffnung, Geliebter . Vielleicht ist sie naiv, aber ich brauche sie. Hoffentlich gibt es ein Wiedersehen für uns. Hoffentlich führt der Duft meiner
     Narzissen dich zu mir.
     
    C.
     
    Wells faltete den Brief zusammen, steckte ihn wieder in den Umschlag und legte ihn auf den Tisch. Eine ganze Weile konnte
     er seinen Blick nicht von ihm lösen. Er stand auf, drehte einige Runden durch die Küche, setzte sich wieder, stand wieder
     auf, drehte noch ein paar Runden, und dann machte er sich auf den Weg zum Bahnhof von Woking, wo er eine Kutsche nehmen wollte.
    «Ich fahre nach London, habe dort etwas zu erledigen», sagte er zu Jane, die im Garten arbeitete. Unterwegs hatte er das Gefühl,
     sein Herz müsse zerspringen.
    Zu dieser nachmittäglichen Stunde schien die St.   James’s Street beschaulich vor sich hin zu schlummern. Wells ließ die Kutsche am Anfang der Straße halten und bat den Kutscher,
     auf ihn zu warten. Er gab seinem Hut einen kecken Klaps, zog seine Fliege gerade und hob witternd den Kopf. Er kam zu dem
     Schluss, dass das schwache, ein wenig an Jasmin erinnernde Aroma, so gut man das durch den Pferdedung bestimmen konnte, wohl
     von den Narzissen kommen musste. Der Symbolgehalt der Blume gefiel ihm, denn |481| irgendwo hatte er gelesen, dass die Blume ihren Namen nicht dem schönen griechischen Gott verdankte, sondern der narkotisierenden
     Wirkung, die man ihr zuschrieb. Die Knolle, der die Narzisse entspross, enthielt Alkaloide, die Wahnvorstellungen hervorrufen
     konnten, und das schien Wells eine ausgesprochen passende Eigenschaft zu sein: Waren nicht sie alle drei – das Mädchen, Tom
     Blunt und er selbst – in einem Wahnbild gefangen? Er betrachtete die lange, schattige Straße und schritt wie ein müßiger Spaziergänger
     los, doch je näher er der mutmaßlichen Quelle des Narzissendufts kam, desto trockener wurde sein Mund. Was machte er eigentlich
     hier? Was stellte er sich vor? Er konnte es gar nicht genau sagen. Er wusste nur, dass er das Mädchen sehen, der Empfängerin
     seiner glühenden Briefe ein Gesicht geben musste oder, wenn das nicht möglich war, sich das Haus ansehen musste, in dem sie
     ihre herrlichen Briefe an ihn schrieb. Vielleicht würde das schon reichen.
    Früher als erwartet stand er vor einem gepflegten Garten mit einem Springbrunnen an einer Seite und umgeben von einem Zaun,
     an den sich Blumen mit großen blassgelben Blütenblättern schmiegten. Da es auf der ganzen Straße keinen vergleichbar schönen
     Garten gab, schloss Wells, dass dies die Narzissen sein mussten und das elegante Haus das von Claire Haggerty, der unbekannten
     jungen Dame, in die verliebt zu sein er mit einer Überzeugung vorgab, die er der Frau, die er wirklich liebte, nicht entgegenbrachte.
     Ohne über dieses Paradox weiter nachdenken zu wollen, das auf der anderen Seite durchaus seiner widersprüchlichen Natur entsprach,
     näherte er sich dem Zaun und steckte fast seine Nase durch die Gitterstäbe, |482| um hinter den bleiverglasten Fenstern etwas zu erkennen, das seiner Anwesenheit einen Sinn gäbe.
    Und im selben Moment gewahrte er im hinteren Teil des Gartens das Mädchen, das ihn verwundert anschaute. Als er sich entdeckt
     sah, versuchte er sich möglichst natürlich zu geben, was jedoch umso mehr misslang, als ihm sofort klar war, das dieses Mädchen
     nur Claire Haggerty sein konnte. Er versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen, und schenkte ihr ein hilfloses Lächeln.
    «Hübsche Narzissen, Miss», sagte er mit versagender Stimme. «Man riecht sie schon am Anfang der Straße.»
    Sie lächelte und kam ein Stückchen näher, nahe genug, dass Wells ihr hübsches Gesicht und die zarten Konturen ihres Körpers
     sehen konnte. Da stand sie, angezogen zwar, endlich vor ihm. Und obwohl ihr vorwitziges Näschen der klassischen Schönheit
     einer griechischen Statue im Wege stand, vielleicht aber auch gerade deswegen, erschien sie ihm atemberaubend schön. Das war
     die Empfängerin seiner Briefe, seine falsche Geliebte.
    «Danke, mein Herr, Sie sind sehr freundlich», erwiderte sie.
    Wells öffnete den Mund zu einer Antwort, doch dann schloss er ihn wieder. Was immer er ihr sagen wollte, es würde gegen die
     Regeln des Spiels verstoßen, in das er eingewilligt hatte. Er konnte ihr nicht sagen, dass er es war, ein unscheinbarer kleiner
     Mann, der die Worte schrieb, ohne die sie nicht leben zu können behauptete. Ebenso wenig konnte er ihr sagen, dass er

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