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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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verständigen, |85| dachte Andrew grunzend und die Arme schwenkend wie Darwins Affen. Begeistert wie ein Kind drang er in die Gasse mit den Apartments
     ein. Die Tür von Nr.   13 war verschlossen. Er klopfte ein paarmal, erhielt aber keine Antwort. Marie schlief sicher schon, doch das war kein Problem.
     Vorsichtig, damit er sich nicht an den noch im Rahmen steckenden Glassplittern verletzte, steckte Andrew den Arm durch das
     Loch im Fenster und schob innen den Riegel zurück, wie er es Marie Kelly selbst hatte tun sehen, seit sie ihren Schlüssel
     verloren hatte.
    «Marie», sagte er, als er eintrat, «ich bin’s, Andrew.»
    Erlauben Sie mir, die Erzählung jetzt zu unterbrechen und Sie darauf hinzuweisen, dass das, was nun geschah, sehr schwierig
     zu berichten ist, weil die Zahl der Empfindungen, denen sich Andrew ausgesetzt sah, allzu hoch erscheint, wenn wir bedenken,
     wie wenige Sekunden die folgende Szene dauerte. Berücksichtigen Sie daher die Dehnbarkeit der Zeit, ihre Fähigkeit, sich hinter
     dem Rücken der Uhren zusammenzuziehen und auszudehnen wie ein Akkordeon. Ich bin sicher, dass Sie das selbst oft genug erlebt
     haben, je nachdem, auf welcher Seite der Toilettentür Sie sich befanden. In unserem Fall dehnte sich die Zeit in Andrews Geist
     dergestalt, dass sie aus einer knappen Handvoll Sekunden eine ganze Ewigkeit machte. Dies ist der Blickwinkel, aus dem ich
     Ihnen das Geschehen berichten und Sie darum bitten möchte, die Diskrepanzen, die zweifellos zwischen den Ereignissen und ihrem
     Verhältnis zur verrinnenden Zeit auftreten, nicht meiner erzählerischen Ungeschicklichkeit anzulasten.
    Im ersten Moment begriff Andrew nicht, was er sah, weigerte sich, genauer gesagt, zu glauben, was er sah. In |86| dieser so kurzen wie endlosen Zeit war Andrews Verstand noch intakt, wenngleich in einem verborgenen Winkel bereits die Gewissheit
     keimte, dass das, was er sah, ihn umbringen würde, da kein Mensch einen solchen Anblick ertragen und weiterleben kann, zumindest
     nicht unversehrt. Und was er da vor sich sah, sagen wir es ohne Umschweife, war Marie Kelly und war es zugleich nicht, denn
     es war schwerlich hinzunehmen, dass das auf dem Bett, in Lachen von Blut, Marie Kelly sein sollte. Andrew war außerstande,
     das, was er in diesem Zimmerchen sah, mit irgendetwas zu vergleichen, was er früher schon einmal gesehen hatte, da er wie
     die meisten Menschen noch nie einen vollständig zerstückelten menschlichen Körper gesehen hatte. Und als sein Verstand schließlich
     akzeptierte, dass er einer mit grausamem Bedacht geschändeten Leiche gegenüberstand, hatte er nicht einmal Zeit, den angemessenen
     Ekel zu empfinden, da er sich der nun einsetzenden Kettenreaktion entsetzlicher Erkenntnisse nicht entziehen konnte, die ihn
     zu der unvermeidlichen Schlussfolgerung führten, dass er den zerschundenen Leib seiner Geliebten vor sich sah. Der Ripper,
     denn dies konnte nur sein Werk gewesen sein, hatte ihr die Haut vom Gesicht geschnitten und sie völlig entstellt. Dennoch
     konnte Andrew nicht leugnen, dass es Marie Kellys Leiche war: von Größe und Beschaffenheit, vor allem aber wegen der Stelle,
     an der er sich befand, konnte dieser entmenschlichte Leib nur der seiner Geliebten sein. Dann überschwemmte ihn der Schmerz,
     ein grausamer Schmerz, der trotz allem nur ein blasser Abglanz dessen war, wozu er sich mit der Zeit auswachsen würde, da
     Andrew jetzt unter einem Schock stand, der ihn noch schützte. Nachdem kein Zweifel mehr möglich war, dass er |87| den Leichnam seiner Geliebten vor sich hatte, zwang sich Andrew in einer Art posthumer Treue, all seine Liebe und Zuneigung
     in den Blick zu legen, mit dem er dies Grauen betrachtete. Doch dann war der Ekel zu übermächtig, den das abgeschälte Gesicht
     in ihm hervorrief, unter dessen Hautfetzen ihm das makabre Grinsen eines Totenschädels entgegenbleckte. Aber war dieser Totenkopf
     nicht der ultimative Empfänger all seiner leidenschaftlichen Küsse gewesen? Wie konnte er ihm jetzt zuwider sein? Dasselbe
     galt für den Körper, den er so viele Nächte hindurch liebkost hatte und der jetzt, von oben bis unten aufgeschlitzt und ausgeweidet,
     seinen Abscheu erregte. Seine Reaktion zeigte ihm, dass dies dort irgendwie aufgehört hatte, Marie Kelly zu sein, weil der
     Ripper in seinem Wahn, sie sich von innen anzusehen, ihr die Menschlichkeit geraubt und nur eine Hülle aus Haut übrig gelassen
     hatte. Nach diesem letzten Gedanken nahm

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